Dämenkind 2 - Kind der Götter
sich näherten. Vor den Augen des fassungslos staunenden karischen Jungen warf sie Mantel und Kleid ab und stand plötzlich in dem knappen fardohnjischen Gewand da. Sie schlotterte dermaßen, dass ihre Zähne klapperten, während sie den eigenen, mit Pelz gefütterten Mantel aus dem Beutel zerrte, und war heilfroh, das warme Kleidungsstück unverzüglich anziehen zu können. Tamylan entledigte sich des grauen Wollkleids und enthüllte eine Ausstattung, die Adrinas Kleidung an Dürftigkeit keineswegs nachstand.
Von nun an verkörperten sie Court'esa . Kalt lag das Halsband auf Adrinas Haut, während sie sich in den Sattel schwang und das Pferd gen Süden lenkte, nach Medalon.
30
ADRINAS ENTWEICHEN aus dem karischen Lager erwies sich als überraschend einfach. Die Kriegsleute waren entweder zu verstört oder zu ausgelaugt, um sie aufzuhalten, und man durfte getrost anzweifeln, dass Cratyn überhaupt daran gedacht hatte, Schildwachen aufzustellen. Das Dreigespann ritt durchs Niemandsland zwischen dem Heerlager und der Grenze, ohne dass es zu einem Zwischenfall kam. Frostiger Sternenschein erhellte den Weg.
Aus einigem Abstand glich das Schlachtfeld einer gänzlich fremdartigen, gespenstischen Landschaft. So weit das Auge reichte, bedeckten düstere Höcker das Gelände, als hätten dem Irrsinn verfallene Sappeure die gesamte Gegend umgegraben und zahllose Erdhaufen hinterlassen. Erst beim Näherreiten begriff Adrina, dass sie Leichen sahen, tausende von Toten, über den Boden verstreut wie zerbrochene, weggeworfene Puppen.
Noch ehe sie die Gefallenen erreichten, wehte ihnen der Gestank entgegen. Unvermindert verpestete ein grauenhafter Geruch nach Blut und Kot die Luft, der Adrina Brechreiz verursachte. Zwischen den Leichnamen bewegten sich schemenhafte Gestalten. Männer suchten nach gefallenen Kameraden, Lagergesindel forschte nach Beute, Frauen sahen sich nach ihren vermissten Männern um, Hüter stapften mit grimmiger
Miene vom einen zum nächsten sterbenden Schlachtross und gaben jedem mit dem Schwert den schnellen Gnadenstoß. Andere Umherstreifende hielten die Augen nach lebenden Verwundeten offen, gleichermaßen nach Freund und Feind, um ein Leben zu retten oder einen Gefangenen zu machen. Am jenseitigen Rande des Schlachtfelds loderten gewaltige Feuer und breiteten eine Wolke schwarzen Rauchs über das gesamte albtraumhafte Umfeld.
»Wir müssen die Pferde am Zügel führen«, sagte Adrina, als sie vor den ersten niedergestreckten Kariern standen. »Durch diese Leichenberge können wir nicht reiten.«
Stumm kamen Tamylan und Mikel der Aufforderung nach. Gemeinsam tappten sie vorwärts und verhüllten mit den Zipfeln ihrer Mäntel das Gesicht gegen den Gestank. Der Untergrund war überaus tückisch; überall klafften tiefe Gruben, lagen zuhauf tote Krieger und verreckte Rösser. Es gab unter den Gefallenen keinen einzigen Rotrock zu sehen. Entweder hatten die Hüter nur geringe Verluste erlitten, oder ihre Toten und Verwundeten waren schon geborgen worden.
Das Schlachtfeld hatte eine gewaltige Ausdehnung. Während sie zu dritt hartnäckig Stunde um Stunde durch das Gewirr trotteten, fragte Adrina sich allmählich, ob es jemals ein Ende hatte. Beharrlich bahnte sie sich einen Weg und bemühte sich darum, nicht an die Toten zu denken, die sie in weitem Umkreis umgaben, und nicht an die Trauer, die sie in ihrem Innern aufstauen musste, bis die Zeit kam, da sie es sich leisten konnte, ihr Ausdruck zu verleihen. Stattdessen richtete sie ihren gesam
ten Willen darauf voranzukommen, setzte einen Fuß vor den anderen, missachtete die Verwundeten, die matte Hände nach ihr ausstreckten, um Hilfe röchelten, und geradeso die leblosen Augen, die sie, wo immer sie hintrat, vorwurfsvoll anzustarren schienen. Nicht sie hatte diesen Krieg angezettelt. Sie trug keine Schuld daran.
Es hatte den Anschein, als sollte die Nacht schier eine Ewigkeit währen, und der Qualm quoll, indem sie sich den Feuern nahten, immer dichter durch die Nacht. Mikel rang nach Luft und wischte sich die tränenden Augen. Mit einem Mal stieß Tamylan ein Aufkeuchen aus. Adrina wandte sich um und sah, dass die Sklavin stehen geblieben war. Voller Entsetzen blickte sie hinüber zu den Brandstätten.
»Was ist denn?«
»Sie verbrennen die Toten …!«
Freilich hatte Adrina schon von der barbarischen medalonischen Sitte der Einäscherung gehört, aber sie war nie zuvor bei einem derartigen Vorgang zugegen gewesen. Der Anblick flößte ihr
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