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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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sagen, Gobines Evangelium sei nichts anderes als des Mahatmas Lehre von der Höheren Harmonie. Aber wie sich der Wissenschaftliche Spiritualist zu erklären bemühte, sei die Ähnlichkeit nur oberflächlich. Ihre früheren Seelenführer seien keine eingeweihten Spiritualisten gewesen und hätten keine wissenschaftliche Ausbildung genossen; sie hätten nur ahnen können, wohingegen er wusste. Das eben bedeute Unmittelbarkeit: direkter Kontakt mit der Seele des Unsichtbaren. Wie deutlich und schön er alles schilderte! Wie all die kleinen Alltagsprobleme schrumpften und vor den durch diese Initiation reingewaschenen Augen gleich Rauchwölkchen verpufften. Und er hatte sofort erkannt, dass Pauline zu den wenigen zählte, die tatsächlich eingeweiht werden konnten, die es wert waren, der sinnlosen Hektik von heute entrissen und in die «Welt jenseits des Schleiers» geführt zu werden. Sie schloss wieder die Augen und sah sich bei ihm sitze n … «Natürlich behandelt er nicht jeden», hatte Mrs Swoffer versichert, «nicht einmal einen von hundert. Er sagt, er wolle lieber verhungern, als seine Zeit auf einen unmystischen Menschen verschwenden. (Dass Sie mystisch sind, hat er sofort gemerkt.) Aber er braucht Zeit – er muss sie habe n … Tage, Wochen, wenn nötig. Unsere übervollen Terminkalender bedeuten ihm nichts. Er hat wahrscheinlich nicht einmal eine Uhr im Haus. Und es ist ihm gleichgültig, ob er bezahlt wird oder nicht; er sagt, sein Lohn sei das Aufblühen der Seele. Wunderbar, nicht wahr?»
    In der Tat: wunderbar! Und welcher Unterschied zu Alvah Lofts Behandlungen nach den Prinzipien des Taylorismus, zu seinen rapid steigenden Gebühren und dem nicht abreißenden Strom von Patienten, die sich einer nach dem anderen seiner knochigen Hand anvertrauten! Und wie kehrte man von der Vereinigung mit dem Unsichtbaren zurück! Voll des Verlangens, anderen zu helfen und alle seine Lieben in die «Welt jenseits des Schleiers» mitzunehmen. Pauline war mit einer uneingestandenen Last auf der Seele in die Stadt gefahren. Jim, Lita, ihr Mann, diese tölpelhafte Amalasuntha, dann immer wieder dieser lästige Michelangelo, und auch Nona – Nona, die jeden Tag dünner und verhärmter aussah und deren Zunge immer spitzer und schärfer wurde, die sich mit kaum zwanzig von einem fröhlichen, spottlustigen Mädchen in eine verhärmte, mäkelige alte Jungfer zu verwandeln droht e …
    All diese Sorgen hatten Pauline mehr bedrückt, als sie sich eingestehen wollte; aber jetzt fühlte sie sich stark genug, sie zu stemmen, oder vielmehr: Sie waren federleicht geworden. «Wenn ihr Amerikaner nur einsehen würdet, wie völlig unwichtig Tatsachen sind und dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt.» Das hatte Gobine gesagt, und seine Worte hatten sie wie eine Offenbarung erschauern lassen.
    Ihr Blick ruhte noch immer mit einem geistesabwesenden Lächeln auf dem ironisch dreinblickenden Gesicht ihrer Tochter, doch in Wahrheit dachte sie: «Wie in aller Welt bringe ich ihn nur dazu, dass er zum Empfang des Kardinals kommt?»
    Das gehörte zu den Bedürfnissen, die Nona niemals verstehen würde. Sie traute ihrer Mutter den dümmlichen Ehrgeiz zu (als ob Pauline das nicht wüsste!), ihre versammelten Würdenträger als gesellschaftliche «Attraktion» zu nutzen, so wie ein eigensüchtiges Kind sein ganzes Spielzeug vor sich anhäuft; sie würde nie begreifen, wie wichtig es war, die Vertreter der sich befehdenden Glaubensrichtungen und die Überbringer der mannigfaltigen Botschaften zusammenzuführen in der Hoffnung, aus dieser Begegnung den Funken der Offenbarung zu schlagen, nach dem die ganze Schöpfung lechzte. «Wenn sich der Kardinal nur in Ruhe mit Gobine unterhalten könnte», dachte Pauline, und diese Möglichkeit umgehend in Szene setzend, sah sie sich schon, wie sie Seine Eminenz in den hintersten Winkel ihrer langen Salonflucht lotste, wo plötzlich zerzaust, aber erleuchtet der Wissenschaftliche Spiritualist vor dem Kirchenfürsten stünde, während sie die Schwelle gegen Eindringlinge verteidigte. Womöglich füllten sich die verknöcherten römischen Dogmen mit neuem Leben, wenn man dem Kardinal die schöne neue Lehre der Unmittelbarkeit begreiflich machen konnte! Aber wie sollte sie Gobine jemals dazu bringen, den Ring zu küssen?
    «Und Mrs Bruss – gibt es etwas Neues? Ich hatte den Eindruck, Maisie wirkte recht zuversichtlich.»
    «Ja, die Nacht war nicht schlecht. Die Ärzte sind der Meinung, sie wird es schaffen

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