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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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– vorläufig.»
    Pauline runzelte die Stirn; abscheulich, wie sich dieser Hinweis auf Leiden und Verfall in ihre Glückseligkeit drängte. Sie lebte in einer Welt, in der es solche Dinge nicht gab, und es erschien ihr grausam – und unnötig –, anzudeuten, dass all das, was Mrs Bruss bereits erduldet hatte, sie womöglich nicht vor künftigem Elend zu bewahren vermochte. «Ich finde, wir sollten versuchen, nicht immer nach vorn zu schauen und uns irgendwelche Leiden auszumalen, weder für uns selbst noch für andere Menschen. Warum sagen die Ärzte ‹vorläufig›? Sie wissen doch gar nicht, ob die Krankheit noch einmal zurückkommt.»
    «Nein, aber sie wissen, dass das der normale Verlauf ist.»
    «Merkst du nicht, Nona, dass genau das die Leiden zurückkommen lässt? Bereit sein zum Leiden schafft Leiden. Und Leiden schaffen heißt Sünden schaffen, denn Sünde und Leid sind in Wirklichkeit eins. Wir sollten uns dem Schmerz verweigern. Alle großen Heiler haben uns das gelehrt.»
    Nona hob die Brauen, auf jene für sie typische, etwas irritierende Art. «Christus auch?»
    Pauline fühlte, wie sie errötete. In letzter Zeit hatte sich Nona angewöhnt, unpassend und ziemlich frech zu antworten. Was für eine Idee, am Frühstückstisch in den verstörenden Geheimnissen der christlichen Lehre zu wühlen! Pauline hatte nicht die Absicht, eine Religion anzugreifen. Doch Nona war wirklich allmählich so quengelig wie ein zahnendes Kind. Und vielleicht war es genau das, was in ihrem Inneren ablief. Vielleicht bahnte sich eine neue Erfahrung ihren Weg durch das zarte Fleisch ihrer Seele. Diese Vorstellung brachte Paulines Theorien durcheinander, doch konfrontiert mit dem Gesicht und der Stimme ihrer Tochter, konnte sie nur zu dem Gedanken Zuflucht nehmen, dass Nona, unfähig, die Höhere Harmonie zu erlangen, in rätselhaftem Unglück gefangen war, aus dem sie sich nicht befreien lassen wollte.
    «Wenn du nur mit mir zu Gobine kämst, Liebes, dann würden dich diese Probleme nicht mehr beunruhigen.»
    «Sie beunruhigen mich auch jetzt nicht – keine Spur. Was mich beunruhigt, ist das schiere menschliche Chaos, das selbst dann noch herrscht, wenn wir unser Bestes getan haben, es zu entwirren. Sieh dir Mrs Bruss an!»
    «Aber die Ärzte sagen, die Aussichten sind gu t …»
    «Hast du sie nach der ersten Krebsoperation jemals etwas anderes sagen hören?»
    «Wenn du natürlich Sorge und Leid als Selbstverständlichkeiten nimmst, Non a …»
    «Ich nicht, Mutter, aber jemand anders – nach ihrer Verbreitung und Hartnäckigkeit zu urteilen. So steht es jedenfalls in den Naturkundebüchern.»
    Pauline spürte, wie sich ihre glatte Stirn zu unerwünschten Runzeln zusammenschob. Es war dem Kind gelungen, ihr das Frühstück zu verderben und das glückliche Gleichgewicht zu stören, in das sie ihre Welt gebracht hatte. Sie wusste nicht, was Nona umtrieb – außer vielleicht, dass sie sich über Stan Heustons unmögliches Verhalten ärgerte; aber dann war es besser, wenn sie rechtzeitig erkannte, was für ein Mensch er war, und sich dieser Enttäuschung stellte. Am Ende hätte sie sich noch in ihn verliebt, überlegte Pauline, und das wäre Aggies wegen sehr unangenehm gewesen. «Sie muss einfach heiraten», sagte sich Pauline, um heitere Gelassenheit bemüht.
    Sie blickte auf die Uhr, rechnete nach, ob es sich noch lohnte, auf ihren Mann zu warten, und beschloss, Powder anzuweisen, er möge ihm das Frühstück warm halten und Kaffee und Reiswaffeln frisch zubereiten, wenn er klingelte.
    Am Tag zuvor hatte Dexter Lita wieder auf einen langen Ausflug mitgenommen. Sie waren so spät zurückgekommen, dass das Essen ihretwegen verschoben werden musste, und verhielten sich den ganzen Abend so schweigsam und unnahbar, dass Pauline sich eine scherzhafte Bemerkung über die einschläfernde Wirkung der Landluft erlaubte und vorschlug, alle sollten früh zu Bett gehen. Heute waren sie noch nicht erschienen, obwohl es schon nach zehn war, und Nona sagte, sie habe keine Ahnung, was sie für diesen Tag planten.
    «Es ist ein Segen, dass Lita hier so zufrieden ist», seufzte Pauline und schickte sich bei dem Gedanken an das Wunder, das Manford vollbrachte, in einen weiteren langweiligen Tag. Sie war ziemlich nervös geworden, als Amalasuntha mit ihren unglaublichen Filmgeschichten und Prahlereien über den unwiderstehlichen Michelangelo aufgetaucht war; aber Lita hatte sich davon anscheinend nicht aus der Ruhe bringen lassen.
    «Jim wird

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