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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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nichts Böses sage n … Andererseits hege sie manchmal den Verdacht, dass Alvah Lofts Lehre vielleicht nur etwas für Anfänger sei. Sascha Gobine, der neue russische Spiritualist, habe ihr das deutlich zu verstehen gegeben. Natürlich existierten im geistigen Leben zahllose Abstufungen, und es mochte vorkommen, dass Alvah Lofts Patienten seinem Niveau entwuchsen, darüber hinauswuchsen, ohne dass er es merkte. Offen gestanden vermutete Gobine (laut Mrs Swoffer), dass im Fall von Pauline genau dies geschehen sei. «Ich glaube, Ihre Freundin hat eine höhere Ebene erreicht», so nannte es der Spiritualist. «Sie stand am Tor,» (er bezeichnete den Mahatma und Alvah Loft als «Torhüter») «und nun hat sich das Tor geöffnet, und sie ist eingetreten – eingetreten i n …» Doch Mrs Swoffer sagte, sie wolle ihn lieber nicht zitieren, sie könne es nicht so schön ausdrücken wie er; Pauline müsse es in seiner eigenen geheimnisvollen Sprache hören. «Allein nur dazusitzen und ihm zu lauschen ist schon ein ewiger Jungbrunnen», hauchte sie und legte eine elektrisierende Hand auf die ihrer Besucherin.
    Jungbrunnen! Schon das Wort spritzte kühle Gischt über Paulines strapazierte Nerven und ausgetrocknete Haut. Nie vernahm sie es ohne das sehnsüchtige Verlangen, tief in seine heilenden Wasser zu tauchen. Sie wollte unbedingt ein paar Sekunden für Gobine zwischen Maniküre und Friseur zwängen.
    Und die Begegnung wurde geradezu zu «einer religiösen Erfahrung», wie sie Nona erzählte. Offenbar hatte sie vergessen, dass ihr bislang jede Begegnung mit einem neuen Propheten in solchem Licht erschienen war.
    «Weißt du, Liebes, es ist etwas gänzlich Neues, etwas völlig andere s … so emotional; ja, emotional ist das richtige Wort. Natürlich, die Russen sind emotional, das ist ihre besondere Stärke. Alvah Lof t … wohlgemerkt, ich will damit keineswegs andeuten, dass ich den Glauben an ihn verloren habe, aber Alvah Loft spricht mit dem Verstand zum Verstand, er wendet sich nicht an das Gefühl. In Gobines Lehre hingegen gibt es einen mystischen Ton, eine Art Unmittelbarkeit, wie Mrs Swoffer es nenn t … Unmittelbarkei t …» Pauline ließ das Wort nachklingen. Es fesselte sie wie jedes Wort, das sie zum ersten Mal in einem neuen Zusammenhang hörte. «Ich wüsste nicht, wie man diese Empfindung besser bezeichnen könnte. ‹Seelenenthüllung› ist Gobines Ausdruc k … Aber er fordert Zeit, viel Zei t … Er sagt, wir lassen unsere Seelen verdorren, wenn wir uns zu sehr eilen. Natürlich habe ich genau das bei Alvah Loft empfunden. Ich fühlte mich wie eine von diesen Gelddosen, die einem in den Kaufhäusern über den Kopf hinwegsausen. 62 Nummer eins, Nummer zwei, und so weiter, und immer ist einem die nächste schon auf den Fersen. Gobine hingegen weigert sich entschieden, sich antreiben zu lassen. Manchmal empfängt er nur einen Patienten pro Tag. Als ich ihn verließ, sagte er, er werde wohl bis morgen früh niemanden mehr behandeln. ‹Ich möchte Ihre Seele nicht mit einer anderen vermischen.› Ist das nicht schön? Und er schenkt einem ein wunderbares, träumerisches Gefühl der Ruh e …» Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück und beschwor des neuen Propheten hageres, bärtiges Gesicht mit den schweren Lidern und die feuchte, klebrige Handfläche herauf, die er ihr segnend auf die Stirn gelegt hatte. Welcher Unterschied zum dicklippigen, öligen Mahatma und dem dünnen, vertrockneten Alvah Loft, der mehr einem Laborgerät glich als einem menschlichen Wesen! «Vielleicht braucht man sie alle der Reihe nach», murmelte Pauline mit der Maßlosigkeit einer Frau, die nie ein altmodisches Kleidungsstück hatte umarbeiten lassen müssen.
    «Man müsste die Therapeuten vom letzten Jahr an die armen Verwandten abtreten können, nicht wahr, Mutter?», spöttelte Nona leise, aber die Mutter entwaffnete sie mit einem Lächeln, das nichts übelnahm.
    «Schatz! Ich weiß, du verstehst von diesen Dingen noch nichts – nur: Nimm dich ein wenig in Acht, Kind, dass du nicht verbittert wirst, ja? Schau – du hast doch nichts dagegen, wenn deine alte Mutter dich darauf hinweist?»
    Manchmal machte Nona ihr wirklich Sorgen – oder würde ihr Sorgen machen, hätte Gobine nicht diesen duftenden Schleier des Friedens über sie geworfen. Ja, Frieden, das war es, was ihr immer gefehlt hatte. Die unbedingte Zuversicht, dass am Ende alles gut wurde. Natürlich hatten dies auch die anderen Heiler gelehrt; mancher würde

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