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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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kleine Achselzucken – wenn ihr Kleid herabglitt und ihre weiße Schulter sich wie ein Flügel hochzuschieben schien! In all ihren Bewegungen lag etwas Vogelartiges, Schwebende s … Armes Kind, armes kleines Mädche n … Er fühlte sich wirklich wie ihr älterer Bruder, und sein Spiegel sagte ihm, dass er für diese Rolle noch nicht zu alt aussa h …
    Die Einsicht, nur knapp etwas Dunklem, Unheimlichem entgangen zu sein, das sie alle in die Tiefe gezogen hätte, gab ihm ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit, ein Feriengefühl, als läge das ganze Leben so gefahrlos und offen vor ihm wie die nächsten vierzehn Tage in Cedarledge. Wie froh war er, dass er das Tarpunfischen abgesagt hatte, dass es ihm gelungen war, Jim und Wyant nach Georgia zu verfrachten und sich diese friedliche Pause zu verschaffen, in der er sich umblicken und über alles klar werden konnte, bevor die Schinderei wieder losging!
    Vorgestern, gleich nach Paulines Abreise, hatte es so ausgesehen, als sollten alle Pläne von einem typischen Anfall Wyant’scher Verschrobenheit zunichtegemacht werden. Wyant fand stets Gefallen daran, sich anders zu besinnen, nachdem alle Übrigen einen Entschluss gefasst hatten, und im letzten Augenblick hatte er per Telefon verkündet, er fühle sich nicht gesund genug, um in den Süden zu reisen. Erst hatte er Pauline angerufen; als er hörte, sie sei schon fort, hatte er sich mit Jim in Verbindung gesetzt, und Jim, beunruhigt, hatte sich an Manford gewandt. Es handle sich um eine der üblichen «nervösen» Attacken seines Vaters; Cousine Eleanor habe das kommen sehen und versucht, die Whisky-Sodas einzuschränken. Schließlich bat Jim, Manford möge bei seinem Vorgänger vorbeischauen und ihn zur Vernunft bringen.
    Diese Besuche machten auf Wyant immer tiefen Eindruck; selbst Manford mit seiner beruflichen Schläue konnte sich das Ausmaß und die Besonderheit seiner Wirkung nicht recht erklären, spürte aber seine Macht und erhielt sie sich, indem er sich so selten wie möglich bei Wyant blicken ließ. Diesmal jedoch sah es aus, als liefe nicht alles so reibungslos wie sonst. Wyant, ausgemergelt und erregt, versuchte das Treffen für sich zu entscheiden, indem er sich, wie stets in Manfords Gegenwart, flott und forsch gab. «Mein lieber Freund! Setzen Sie sich doch! – Zigarre? Freut mich immer, wenn ich meinen Nachfolger sehe. Vielleicht kann ich mit ein paar kleinen Hinweisen zur Führung des Unternehmens diene n …?»
    Es waren die üblichen Sätze, nur übertrieben, überbetont und ohne den üblichen Wyant’schen Tonfall, und er fuhr fort: «Allerdings weiß ich nicht, warum der Versager dem Erfolgreichen einen Rat erteilen sollte. Nun ja, in diesem Fall geht es um Ji m … Ja, ich weiß, Sie haben Jim genauso gern wie ic h … Trotzdem ist er mein Sohn, nicht wahr? Also, ich halte es für keine gute Idee, ihn gerade jetzt von seiner Frau zu trennen. Natürlich, ich bin altmodisch, das weiß ich. All diese verstaubten alten Traditionen sind abgeschafft. Dafür haben Sie und Ihresgleichen gesorgt – Sie haben das flüchtige Gesetz der Prärie eingeführ t … Aber mein Sohn ist mein Sohn; er wurde nicht nach den neuen Regeln erzogen, und verdammt noch mal, Manford, Sie verstehen doc h … Nein, vermutlich gibt es Dinge, die Sie nie verstehen werden, egal, wie teuflisch schlau Sie sind und wie viele Millionen Sie verdient haben.»
    Es sah ganz so aus, als würden gleich alle Pläne über den Haufen geworfen, aber hatte Manford auch keine Ahnung vom gesellschaftlichen Kodex des armen Wyant, so verstand er es doch, ruhig zu bleiben, wenn es geboten schien, und wusste, wie man mit einem schwachen, übererregten Mann redet, der zu viel getrunken hat und sich zu wenig bewegt.
    «Sie machen sich Sorgen um Jim, nicht wahr? Ja, das verstehe ich. Ich mache mir auch Sorgen. Die Sache ist die: Jim hat bis zum Umfallen gearbeitet, und ich fühle mich zum Teil dafür verantwortlich, denn ich habe ihm zu dieser Stelle bei der Bank verholfen. Er leistet dort Großartiges, ja, er übertreibt es. Das ist das ganze Problem, und deshalb fühle ich mich Ihnen allen gegenüber verpflichtet, ihn so bald wie möglich loszueisen und ihm zu richtigen Ferien zu verhelfe n … Jim ist jung, vierzehn freie Tage bringen ihn wieder auf die Beine. Aber Sie sind der Einzige, der ihn von Frau und Kind weglotsen kann, und wo Lita ist, dort sind Tumult, Albernheiten, Rechnungen und Scherereien. Deshalb haben seine Mutter und ich

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