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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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hätte Zeit gehabt, ein paar freundliche Worte an die arme Maisie zu richte n … Vielleicht musste sie ihr eine Woche freigeben oder wenigstens ein paar Tage, bis sie ihre Mutter im Krankenhaus untergebracht hatte. Zumindest wenn Disterman zu einer Operation rie t …
    Schrecklich, wie sehr man immer unter Zeitdruck stand. Pauline hätte die arme Mrs Bruss gern persönlich besucht. Aber übermorgen trafen Dexter, Lita und das Kind ein, und bis sie kamen, blieb gerade noch Zeit genug, letzte Hand an Cedarledge zu legen. Auch Pauline selbst war schrecklich erschöpft, obwohl sie sich noch heute Morgen eine Dreifachsitzung (10 0 $ ) bei Alvah Loft gegönnt hatte.
    Es war ihr stets ein Anliegen, zu allen Angestellten freundlich zu sein; es fehlte ihr nur an der nötigen Zeit – immer diese Zeit! Zusammen mit ihr selbst wurden auch sämtliche Hausangestellten vom unaufhörlichen Druck der Termine fortgerissen. Wenn ab und zu einer von ihnen auf der Strecke blieb, bedauerte sie ihn, ließ ihm Erste Hilfe zukommen und tat, was sie konnte; aber das Gehetze hörte nie auf, es nahm kein Ende; wenn man jemandem einen Gefallen erweisen wollte, so war das nur im Vorbeisausen möglich.
    Diese wohltuende ländliche Ruhe! Zufrieden atmete Pauline tief ein. Nie zuvor hatte sie sich Cedarledge mit einem so unumschränkten Besitzergefühl genähert. Dieses Domizil war wirklich ihr Werk. Zwar waren Gebäude und Park, schon Jahre bevor sie das Anwesen erworben hatte, erbaut und angelegt worden, doch die Details hatte sie mit ihrem Willen und ihrem Wohlstand geformt. Pauline war überzeugt, dass sie das Leben auf dem Land liebte – doch in Wirklichkeit liebte sie es, ihr Stück Land zu verändern und zu diesem Zweck über möglichst viel Grund zu verfügen. So kam es, dass der Besitz Cedarledge die umgebende Landschaft jedes Jahr weiter zurückdrängte und die sich meilenweit erstreckenden Goldruten, Birken und Ahornbäume ersetzt wurden durch immer mehr schimmernden Rasen, Solitärlinden, Solitäreichen und schlitzblättrige Buchen, die sich über immer mehr kostbare Strauchpflanzungen und verschlungene Pfaden wölbten.
    Vom äußersten Tor fuhr man inzwischen zwei Meilen bis zum Haus, und Pauline hielt selbst das noch für zu kurz, um eingehend würdigen zu können, was es auf dem Weg bis zur Eingangstür zu sehen gab. Im Dorf das Blinken des vergoldeten Wetterhahns auf dem neuen Fachwerkspritzenhaus, am Fuß eines üppigen Weidehangs der kürzlich erweiterte Milchbauernhof, dann Wälder mit Hemlocktannen und Hartriegel, große Flächen mit Rhododendren, Azaleen und Lorbeerrosen, die an einem versteckten See heimisch geworden waren, der kurz aufblitzende japanische Wassergarten, gesäumt von blühenden Kirschbäumen und Weidenkätzchen, weitläufiger Rasen, ausladende Bäume, die langgezogene Backsteinfassade des Hauses und seine Terrassen, und hinter einem geschnitzten Torbogen der Holländische Garten mit beschnittenen Zwergsträuchern und endlosen Reihen von Zwiebelgewächsen unter dem Kommandostab einer prächtigen Sonnenuhr.
    Pauline sah in jedem Baum, Strauch, Wasserlauf und Blumenteppich nicht nur das, was sie erkennbar darstellten, sondern auch den besiegten Hang, den Erdtransport, die Entwässerungsgräben und Wasserleitungen sowie die ihrem Dasein vorausgegangenen Briefe und bezahlten Rechnungen, und es hätte ihr weit weniger bedeutet – vielleicht gar nichts –, wenn das alles von allein entstanden wäre, so wie die wahllos wachsenden Felsenbirnen und wilden Kirschbäume außerhalb der Tore.
    Der zarte Frühlingszauber drang wohl bis zu ihr durch, das endlose Hellgrün und blasse Rosa der knospenden Vegetation, aber ihre Augen konnten auf keiner Schönheit verweilen, ohne diese in Humus, Dünger, Züchterkataloge und Rechnungen – immer wieder Rechnungen – aufzulösen. Es hatte alles entsetzlich viel Geld gekostet, doch selbst darauf war sie stolz; für sie war das ein Teil der Schönheit, ein Teil der auserlesenen Ordnung und Zweckmäßigkeit, die in der vorgetäuschten Wildnis der Rhododendrenschlucht ebenso herrschte wie in den rechtwinkligen Beeten des Holländischen Gartens.
    «Fünfundsiebzigtausend Zwiebeln in diesem Jahr!», dachte sie, als der Wagen an dem geschnitzten Torbogen vorbeifuhr und ihr einen flüchtigen Blick auf einen Rasen mit bernstein- und fliederfarbenen Beeten gönnte, eingefasst von verdrehtem, verschnörkeltem Immergrün.
    Fünfundzwanzigtausend Blumenzwiebeln mehr als im letzten Jahr; so

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