Daemmerung der Leidenschaft
»Mein Gott, Booley, möchten Sie, daß ich Ihnen eine Zeichnung mache?«
Der Gedanke, daß Webb in der Küche Sex mit Roanna hatte, kam ihm über die Maßen unwahrscheinlich vor. Die abgrundtiefe Blödheit mancher angeblich intelligenten Menschen überraschte ihn nie, aber das hier schlug dem Faß den Boden aus. Komisch, daß er sich Webb durchaus als Mörder, aber nicht als Verführer seiner kleinen Cousine vorstellen konnte.
Nun, er würde die Wahrheit über die Episode in der Küche von Roanna erfahren. Von diesen dreien hier wollte er etwas anderes. »Also, sie hatten Streit. Ist er in Gewalt ausgeartet?«
»Aber sicher«, erwiderte Harlan, der nur zu gierig die Gelegenheit ergriff, sich wieder ins Rampenlicht zu setzen. »Sie waren oben, aber Jessie kreischte so laut, daß wir jedes Wort verstehen konnten. Dann brüllte Webb, sie solle sich doch scheiden lassen, daß er alles tun würde, um sie loszuwerden, und dann hörten wir Glas splittern. Anschließend kam Webb die Treppe runtergestürmt und raste aus dem Haus.«
»Hat einer von Ihnen Jessie danach noch gesehen oder gehört, im Badezimmer vielleicht?«
»Nö, nicht die Spur«, sagte Harlan und Gloria schüttelte den Kopf. Keiner hatte versucht, mit Jessie zu reden, da man ihr erfahrungsgemäß Zeit lassen mußte, ein wenig abzukühlen, wenn man nicht selber Ziel ihres Zorns werden wollte. Auf Lucindas Zügen malten sich Fassungslosigkeit und Entsetzen, als ihr klar wurde, wohin Booleys Fragen führten.
»Nein«, brauste sie wild entschlossen auf. »Booley, nein! Sie können nicht Webb verdächtigen!«
»Das muß ich leider«, erwiderte er und sprach es so sanft wie möglich aus. »Sie hatten einen heftigen Streit. Nun, wir wissen alle, daß Webb ganz schön wütend werden kann, wenn er richtig gereizt wird. Keiner hat Jessie gesehen oder nur einen Laut von ihr gehört, nachdem er fort war. Bedauerlicherweise wird in so einem Fall eine Frau meistens vom Ehemann oder Liebhaber getötet. Es tut mir aufrichtig leid, Lucinda, aber tatsächlich ist Webb der Hauptverdächtige.«
Sie schüttelte immer noch den Kopf, und wieder rannen ihre Tränen über die runzligen Wangen. »Das könnte er nicht. Nicht Webb!« Es klang flehentlich.
»Das hoffe ich auch nicht, aber ich muß es überprüfen. Also, um welche Zeit ist Webb gegangen? Bitte überlegen Sie genau.«
Lucinda schwieg. Harlan und Gloria sahen einander an. »Acht Uhr?« meinte Gloria schließlich unschlüssig.
»Ja, ungefähr acht«, bestätigte Harlan. »Der Film, den ich mir ansehen wollte, hatte gerade begonnen.«
Acht Uhr. Booley dachte ein wenig darüber nach, wobei er auf seiner Unterlippe kaute. Clyde O'Dell, der Leichenbeschauer, verrichtete seinen Job schon ungefähr genauso lange wie Booley, und er war verdammt gut, wenn es darum ging, die Todeszeit zu schätzen. Er besaß sowohl die Erfahrung als auch das Talent, den Grad der Leichenstarre mit der Körpertemperatur zu vergleichen und so zu einem ziemlich akkuraten Ergebnis zu gelangen. Clyde hatte Jessies Todeszeit mit »um die zehn Uhr« angegeben, wobei er seine rechte Hand hin und herwiegte, was bedeutete, daß es auch ein wenig früher oder später gewesen sein konnte. Acht Uhr war ein bißchen arg früh, und obwohl es hätte sein können, warf diese Feststellung doch einen kleinen Zweifel auf Webbs Schuld. Der Fall mußte wasserdicht sein, bevor er ihn dem Bezirksstaatsanwalt vorlegte; denn der alte Simmons war ein viel zu gerissener Politiker, als daß er einen Fall vor Gericht gebracht hätte, in den die Davenports und die Tallants verwickelt waren, ohne sich ziemlich sicher zu sein, ihn auch im Griff zu haben. »Hat irgend jemand später noch ein Auto gehört? Ist Webb vielleicht nochmal zurückgekommen?«
»Ich hab nichts gehört«, verneinte Harlan.
»Und ich auch nicht«, echote Gloria. »Hier drinnen hört man höchstens einen Drei-Tonnen-Laster, außer man liegt im Bett und die Balkontüren stehen offen.«
Lucinda rieb sich die Augen. Booley hatte den Eindruck, als wünschte sie, ihre Schwester und ihr Schwager würden endlich die verdammte Klappe halten. »Normalerweise hört man wirklich nicht, wenn jemand vorfährt«, sagte sie. »Das Haus ist sehr gut isoliert, und das Gebüsch schirmt zusätzlich Geräusche ab.«
»Also hätte er durchaus zurückkommen können, ohne daß es jemand bemerkt hätte.«
Lucinda machte den Mund auf, schloß ihn jedoch wieder, ohne zu antworten. Die Fakten lagen auf der Hand. Der
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