Daemmerung der Leidenschaft
den Raum. Sie war eine große, schlanke Frau mit dunklem, leicht ergrauendem Haar, der Typ, der eher gutaussehend als schön ist. Selbst um diese Stunde war sie tadellos gekleidet: maßgeschneiderte Hosen und eine frisch gebügelte weiße Bluse. Ihr Blick blieb auf Booley haften. »Ist es wahr?« fragte sie und ihre Stimme brach ein wenig. »Das mit Jessie?« Trotz Booleys Argwohn, was Jessie betraf, schien sie mit ihrer Schwiegermutter gut ausgekommen zu sein. Im übrigen standen sich die Davenports und Tallants so nahe, daß Yvonne Jessie schon von der Wiege her gekannt hatte.
Neben ihm versuchte Lucinda mühsam, ein Schluchzen zu unterdrücken, wobei es sie am ganzen Körper schüttelte. Booley nickte als Antwort, und Yvonne schloß die Augen gegen die aufsteigenden Tränen.
»Roanna hat es getan«, zischte Gloria und wies angeekelt auf die kleine, in die Decke gehüllte Gestalt auf dem Sofa.
Yvonne hob den Kopf und warf Gloria einen ungläubigen Blick zu. »Mach dich doch nicht lächerlich«, schnauzte sie und schritt entschlossen hinüber zu Roanna, wo sie in die Knie ging und ihr das zerzauste Haar mit leisen Trostworten aus dem kalkweißen Gesicht strich. Booleys Meinung von Yvonne stieg beträchtlich, obwohl er bezweifelte, daß Gloria sie teilte, wie aus ihrer Miene zu schließen war.
Lucinda ließ den Kopf hängen, als ob sie es nicht über sich brächte, ihre andere Enkelin anzusehen. »Werden Sie sie verhaften?« flüsterte sie.
Booley nahm eine ihrer Hände in die seinen und kam sich dabei ungeschickt und linkisch wie ein Ochse vor, während sich seine Pranken um ihre kalten, schlanken Finger schlossen. »Nein, das werde ich nicht«, winkte er ab.
Lucinda erschauerte leicht und entspannte sich ein wenig. »Gott sei Dank«, flüsterte sie und kniff die Augen zu.
»Ich würde gern wissen, warum nicht!« tönte Gloria mit schriller Stimme von Lucindas anderer Seite und fuhr auf wie eine nasse Henne. Booley hatte Gloria nie auch nur annähernd so gerne gemocht wie Lucinda. Sie war zwar die Hübschere gewesen, aber immerhin hatte Lucinda Marshall Davenports Aufmerksamkeit erregt, und sie war es, die den reichsten Mann von Nordwest-Alabama geheiratet hatte, während Gloria fast rotierte vor Neid.
»Weil ich nicht glaube, daß sie es getan hat«, erwiderte er unwirsch.
»Wir haben sie aber direkt bei der Leiche stehen sehen! Ja, sie stand sogar in ihrem Blut!«
Verärgert fragte sich Booley, was das mit dem Ganzen zu tun hatte. Doch er beherrschte sich. »Soweit ich weiß, war Jessie schon ein paar Stunden lang tot, als Roanna sie fand.« Er ließ sich nicht über die technischen Details wie das Fortschreiten der Leichenstarre aus, da er der Meinung war, daß Lucinda das nicht unbedingt hören mußte. Es war unmöglich, die genaue Todeszeit festzustellen, außer mittels eines Zeugen, natürlich; aber Jessie mußte mindestens ein paar Stunden vor Mitternacht gestorben sein. Er wußte nicht, warum Roanna ihrer Cousine um zwei Uhr morgens einen Besuch abgestattet hatte – und das würde er definitiv herausfinden –, doch da war Jessie bereits tot gewesen.
Das kleine Grüppchen erstarrte und stierte ihn an, als ob sie diese letzte Wendung der Ereignisse nicht ganz begreifen könnten. Er fischte sein kleines Notizbuch aus der Tasche. Normalerweise hätte einer der Detectives des Counties die Befragung durchgeführt, aber hier handelte es sich um die Davenports, und der Fall verdiente seine persönliche Aufmerksamkeit.
»Mr. Ames sagt, daß Webb und Jessie heute abend einen furchtbaren Streit hatten«, begann er und fing den scharfen Blick auf, den Lucinda ihrem Schwager zuwarf.
Dann holte sie tief Luft und straffte ihre Schultern, während sie sich mit ihrem durchnäßten Taschentuch das Gesicht abwischte. »Sie haben sich gestritten, das stimmt.«
»Weswegen?«
Lucinda zögerte, und Gloria sprang in die Bresche. »Jessie hat Webb und Roanna dabei erwischt, wie sie es in der Küche trieben.«
Booleys graue Brauen schossen in die Höhe. Es gab nicht viel, das ihn noch überraschen konnte, aber bei dieser Behauptung empfand er mildes Erstaunen. Zweifelnd betrachtete er das zerbrechliche, zusammengesunkene Wesen am anderen Ende des Raums. Roanna kam ihm, wenn auch nicht kindisch, so doch einigermaßen kindlich vor, und er hätte Webb nicht für einen Mann gehalten, den so etwas anmachte. »Wie 'getrieben'?«
»Sie haben es getrieben, so wie ich sage«, tönte Gloria mit schriller werdender Stimme.
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