Daemmerung der Leidenschaft
abgestürzt. Marshall Davenport starb mit sechzig an einem durchgebrochenen Blinddarm, er hatte ihn ignoriert, weil er ihn für eine Darmverstimmung hielt, bis die Entzündung dann so schlimm geworden war, daß sein Körper kapitulierte. Schließlich setzte dieser Autounfall vor zehn Jahren Davids und Janets und Karens Leben ein Ende. Das hätte Lucinda damals beinahe zerbrochen – doch sie hatte sich aufgerichtet, das Kinn gereckt und weitergemacht.
Und jetzt das hier; er wußte nicht, ob sie diesen neuerlichen Verlust würde verkraften können. Sie hatte Jessie immer von Herzen geliebt, und das Mädel war ringsum hofiert worden von der feinen Gesellschaft des Countys, obwohl er, Booley, so seine Zweifel in bezug auf sie gehabt hatte. Manchmal war ihr Gesichtsausdruck direkt kaltblütig gewesen, wie bei einigen Killern, die ihm über den Weg liefen. Nicht, daß er je Schwierigkeiten mit ihr gehabt hätte. Nie war er gerufen worden, um irgendwelche Skandale zu vertuschen. Was immer Jessie auch für ein Mensch gewesen sein mochte, unter ihrer fröhlichen, charmanten Fassade und ihren vorzüglichen Manieren hatte sie durchaus ihre Weste weiß gehalten. Jessie und Webb galten als Lucindas Augäpfel, und die alte Dame war beinahe geplatzt vor Stolz, als die beiden Kinder vor ein paar Jahren geheiratet hatten. Booley haßte das, was er nun tun mußte; es war schlimm genug, daß sie Jessie verloren hatte, ohne Webb auch noch hineinziehen zu müssen, aber es gehörte nun mal zu seinem Job. Politik oder nicht, das hier ließ sich nicht unter den Teppich kehren.
Turkey Maclnnis, ein bulliger Notarzt, betrat den Raum und ging zu Roanna hinüber. Er kauerte vor ihr nieder. Turkey, also »Truthahn«, wurde deshalb so genannt, weil er den Ruf eines Truthahns täuschend imitieren konnte. Er war einer der besseren Ärzte im County. Booley lauschte seiner sachlichen Stimme, mit der er dem Mädchen ein paar Fragen stellte, um ihr Reaktionsvermögen zu testen. Mit einer winzigen Lampe leuchtete er ihr in die Augen und prüfte sodann Puls und Blutdruck. Roanna beantwortete die Fragen mit ausdrucksloser, beinahe unhörbarer Stimme, als ob ihr das Sprechen furchtbar schwerfiele. Sie betrachtete den Arzt, der vor ihr kniete, vollkommen gleichgültig.
Man holte eine Decke und wickelte sie darin ein, dann drängte Turkey sie, sich auf das Sofa zu legen. Anschließend brachte er ihr eine Tasse Kaffee, die, wie Booley annahm, wahrscheinlich jede Menge Zucker enthielt, und flößte sie ihr ein.
Booley seufzte. Nun, da er wußte, daß für Roanna gesorgt war, konnte er seine verhaßte Pflicht nicht länger aufschieben. Er rieb sich den Hinterkopf und schritt zu der kleinen Gruppe am anderen Ende des Raums. Harlan Ames erzählte gerade zum zehnten Mal die Ereignisse des Abends aus seiner Sicht, und Booley hatte die schmierige, überlaute Stimme allmählich mehr als satt.
Er setzte sich neben Lucinda. »Hat man Webb schon gefunden?« fragte sie in ersticktem Ton, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Zum ersten Mal, dachte Booley, sieht man Lucinda ihre dreiundsiebzig Jahre an. Sie hatte immer vi tal, gepflegt und stark gewirkt, als wäre sie aus rostfreiem Stahl; doch nun sah sie direkt eingefallen aus, wie sie so dasaß in ihrem Nachthemd und Morgenmantel.
»Noch nicht«, erwiderte er unbehaglich. »Wir suchen nach ihm.« Das war eine gewaltige Untertreibung.
Es gab eine leichte Unruhe an der Tür, und Booley drehte sich stirnrunzelnd um, entspannte sich jedoch, als Yvonne Tallant, Webbs Mutter, eilig den Raum betrat. Theoretisch hätte sie nicht hereingelassen werden dürfen; aber Yvonne gehörte zur Familie, auch wenn sie sich vor ein paar Jahren von ihr distanziert hatte, indem sie ausgezogen war in ein kleines Häuschen jenseits des Flusses in Florence. Yvonne war eine ziemlich unabhängige Frau. Gerade jetzt jedoch wünschte Booley, sie wäre nicht aufgetaucht, und er fragte sich, wie sie wohl von dem Mord erfahren haben mochte. Ach, zum Teufel, es hatte keinen Zweck, sich im Moment darüber den Kopf zu zerbrechen. Das war das Problem mit Kleinstädten. Irgendeiner der Beteiligten, ein Bote vielleicht, hatte zu Hause angerufen und einem Familienmitglied etwas erzählt, der dann wiederum mit einem Freund oder einer Freundin telefonierte, der es einer Verwandten steckte, die zufällig Yvonne persönlich kannte und es auf sich nahm, ihr die Hiobsbotschaft mitzuteilen. So lief es in der Regel.
Yvonnes grüne Augen überflogen
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