Daemonen in London
Er war gerade im Begriff, auf sie
zuzuspringen, als das Gift endgültig die Kontrolle über ihn
erlangte, seine Muskeln schlagartig erschlafften und er – mit
einem Ausdruck der Verwunderung in seinem verwitterten Gesicht - nur
wenige Zentimeter vor Keeva zusammenbrach.
Atemlos
blickte sie auf das riesenhafte Wesen, das nun völlig reglos vor
ihr lag. Die Wirkung ihres Nachtsichttrankes klang langsam ab und
nach und nach verschwammen die Einzelheiten des Dämonenkörpers
vor ihren Augen.
Ihr
war noch immer nicht so ganz klar, was sich hier eigentlich gerade
abgespielt hatte, doch es blieb ihr jetzt auch keine Zeit, um lange
darüber nachzudenken. Die Todesschreie des Dämons waren
weithin geklungen und hatten sicherlich die halbe Straße
geweckt. Bereits jetzt hörte sie, wie die ersten Jalousien
hochgezogen und die ersten Fenster geöffnet wurden. Es würde
nicht lange dauern, bis sich ein paar Neugierige hier einfanden –
es war also höchste Zeit für sie, so schnell wie möglich
von hier zu verschwinden.
Ihr
unbekannter Retter fiel ihr wieder ein und sie dachte an den
Schmerzenslaut, den sie gehört hatte. Schnell lief sie ein paar
Schritte zu der Stelle, an der der Dämon den Mann abgeschüttelt
hatte, doch sie konnte niemanden finden. Er war bereits genauso
schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Ein leichtes
Glitzern auf dem Boden weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie ging in die
Hocke und untersuchte tastend den Untergrund mit ihren Fingern.
Der
Trank hatte seine Wirkung jetzt vollständig verloren, so dass
sie nichts mehr erkennen konnte, doch nach wenigen Sekunden spürte
sie die feinen Glieder einer Kette. Vorsichtig hob sie sie hoch. Sie
war zerrissen, aber der Anhänger hing noch daran. Keeva
erstarrte, als sie erkannte, um was es sich handelte –
Geräusche von der Straße erinnerten sie jedoch daran, dass
sie keine mehr Zeit zu verlieren hatte.
Sie
steckte die Kette samt Anhänger in ihre Jackentasche, lief mit
schnellen Schritten zum toten Dämon und suchte nach ihren
Armbrustbolzen. Sie konnte nur zwei davon finden, der dritte musste
irgendwo unterhalb des zusammengebrochenen Monsters stecken und war
für sie in diesem Augenblick unerreichbar.
Gehetzt
blickte sie zur Toreinfahrt.
„Was
ist da los?“, war eine Stimme von der anderen Seite des
Bretterzaunes zu hören und näher kommende Schritte hallten
durch die Nacht.
Keeva
fluchte leise. Sie warf einen letzten Blick auf den dunklen
Muskelberg vor sich, dann lief sie so leise wie möglich zu den
gelockerten Brettern. Auf dem Weg durch den düsteren Hof
stolperte sie plötzlich über einen weichen Gegenstand. Sie
hielt kurz inne, hob ihn auf und erkannte verblüfft, dass es
sich um einen Turnschuh handelte. Er fühlte sich warm an und
ohne groß darüber nachzudenken steckte sie sich den Schuh
unter die Jacke, schob dann ihre Kapuze über den Kopf, schlüpfte
durch den Zaun und lief schnell und ohne auf die Zurufe des
vollkommen verdutzten Mannes in der Durchfahrt zu reagieren um die
Ecke, hinein in das schützende Dunkel der Straßen.
*
Shane
Truax humpelte mit finsterem Gesicht durch die kalte Nacht. Das war
ganz und gar nicht so abgelaufen, wie er es sich in Gedanken
vorgestellt hatte. Alles war viel zu knapp gewesen und der Schreck
saß ihm noch tief in den Gliedern. Wenn er nur eine Sekunde
später in den Hof gekommen wäre, hätte der Dämon
die junge Frau getötet, ohne dass diese auch nur den Hauch einer
Chance gehabt hätte.
Shane
war klar, dass das Mädchen nicht wissen konnte, wie er bereits
in der Nacht zuvor den oberflächlichen Schlaf des Dämons
bemerkt hatte. Daher würde sie ihn wohl trotzdem als ihren
großen Retter ansehen – ohne auch nur zu ahnen, dass
genau das Gegenteil der Fall war: Er hatte ihr Leben riskiert, hatte
sie in eine beinahe tödliche Falle tappen lassen, weil er
geglaubt hatte, alles im Griff zu haben. Shane Truax, seines Zeichens
Vierteldämon und großer Kenner der Dämonenwelt!
Er
schnaubte bitter. Seine Überheblichkeit und Arroganz hätten
dem Mädchen beinahe das Leben gekostet, und all das nur, weil er
sie wiedersehen hatte wollen. Wenn sie beide nicht so ein
unverschämtes Glück gehabt hätten, dann hätte er
nur noch ihren zerfetzten Körper zu Gesicht bekommen. Besser
gesagt, die wenigen Teile, die ein hungriger Dämon noch von ihr
übrig gelassen hätte...
Erneut
schüttelte ihn das Grauen, als er sich der möglichen
Konsequenzen seines verantwortungslosen Nicht-Handelns
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