Dämonisches Tattoo
die Verhaftung und nebenbei noch ein bisschen Regen herbeisingt!«
Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben, denn der bloße Gedanke daran, dass die Arbeit der Ermittlungsbehörden von einem Scharlatan gemacht – oder wohl eher: beeinflusst – werden könnte, machte ihn wütend. Ebenso die Vorstellung, dass Frank an so einen Unsinn glauben wollte.
Obwohl er ihn am liebsten angeschrien hätte, zwang Chase sich, ruhig zu bleiben. Das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte, war Franks endgültiger Zusammenbruch. Sichtlich hatten seine Worte genügt, um Frank den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er stand nicht länger aufrecht, sondern hatte eine gebeugte Haltung angenommen, als würde ihn die Trauer allmählich in die Knie zwingen. Das Neonlicht hob die Falten hervor, die die letzten Monate in seinem Gesicht hinterlassen hatten, und zum ersten Mal fiel Chase auf, wie hager sein früherer Partner geworden war.
Frank fuhr sich über die Augen und vertrieb die Schatten, die sich darin eingenistet hatten. »Vermutlich hast du recht, Chase. Die letzten Monate waren nicht einfach. Nein«, er schüttelte den Kopf, »genau genommen waren es die schlimmsten Monate meines Lebens. Jeden Morgen, wenn ich die Augen öffne – in diesem Moment, in dem man nicht mehr schläft, aber auch noch nicht ganz wach ist –, drehe ich mich herum, um nach ihr zu sehen, aber sie ist nicht da. Sie wird nie wieder da sein, und der Gedanke, dass dieses Schwein da draußen herumläuft, während …«
»Ich weiß, Frank.« Aber wusste er das wirklich? Er hatte studiert und gelernt, sich in Täter und Opfer hineinzuversetzen, doch plötzlich fragte er sich, ob er wirklich verstand, was in ihnen vorging, was sie durchmachten. Vielleicht war das, was er zu wissen
glaubte,
nichts weiter als eine Summe dessen, was man ihm beigebracht hatte. Dinge, von denen man erwartete, dass Menschen sie in bestimmten Situationen empfanden, ohne zu wissen, ob das tatsächlich der Fall war. Aber wären seine Profile so treffend, wie sie es in der Vergangenheit gewesen waren, wenn er nicht in der Lage wäre, das Denken anderer nachzuvollziehen?
Auch wenn er darauf im Augenblick keine Antwort hatte, konnte er zumindest eines mit Sicherheit sagen: Frank brauchte Hilfe. Wenn er ihm jedoch jetzt mit den Worten
Psychologe
und
Therapie
kam, würde Frank die Mauer wieder hochziehen, hinter die er Chase gerade einen kurzen Blick gewährt hatte. Nur wenn er sich selbst eingestand, dass er nicht mehr allein damit fertig wurde, und bereit war, Hilfe anzunehmen, konnte sie auch etwas bewirken.
Plötzlich seufzte Frank. »Ich weiß, dass vieles falsch gelaufen ist. Vielleicht könnten wir … Hast du Lust, heute Abend auf ein Bier vorbeizukommen?«
»Gern.« Vielleicht war das die passende Gelegenheit, um in aller Ruhe mit Frank zu reden.
»Sieben Uhr, bei mir«, sagte Frank und war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Kaum war er zur Tür hinaus, stand Miss Tanner auch schon auf der Schwelle.
»Es tut mir leid, Agent Ryan. Ich habe versucht ihn aufzuhalten.«
»Schon gut. Ich hätte sowieso mit ihm sprechen müssen.«
»Wenn Sie nichts mehr für mich haben, mache ich jetzt Feierabend.«
Chase nickte. »Gehen Sie nur. Bis Morgen.«
Sobald sie fort war, schaltete er den Fernseher an, um sich die Nachrichten über den neuesten Mord anzusehen. Nach ein paar Minuten drehte er den Ton ab, da er genug von der sensationsheischenden Berichterstattung hatte, und nahm sich das Skript seines morgigen Vortrags noch einmal vor, bis ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken riss. Er warf seine Unterlagen auf den Tisch und griff nach dem Hörer.
»Ryan«, meldete er sich.
In der Leitung knackte es. Verkehrslärm rauschte im Hintergrund, so laut, dass Chase Schwierigkeiten hatte, etwas zu verstehen. »Hallo? Wer ist da?«
»Agent Ryan.« Die Stimme des Anrufers klang so blechern, dass Chase sofort klar war, dass sie technisch verfälscht wurde. Aufmerksam geworden setzte er sich aufrecht hin und drückte die Aufnahmetaste des Anrufbeantworters.
»Mit wem spreche ich?«
»Vielleicht ahnen Sie das ja bereits.« Im Hintergrund erklang ein Rattern, womöglich ein Zug oder eine U-Bahn. »Mögen Sie meine Arbeit, Agent?«
Chase bezweifelte keine Sekunde lang, wen er da am Telefon hatte. Er riss ein Blatt Papier aus dem Drucker, schrieb mit einem dicken Filzstift darauf:
Anruf verfolgen
»Ihre Arbeit?«, hakte er nach, als er mit Zettel und Telefon zu seiner Bürotür
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