Daisy Goodwin
Crescendi. Cora konnte selbst recht gut
Klavier spielen – sie beherrschte das für junge Damen typische Repertoire an
Walzern von Strauß und Nocturnes von Chopin –, aber sie wusste, dass wer immer
da spielte, eine andere Klasse hatte. Es war nicht nur die technische Schwierigkeit
des Stückes, sie hatte das Gefühl, dass der Spieler vollkommen in der Musik
aufging.
Nach einer Abfolge von Akkorden
setzte tiefe Stille ein. Cora öffnete die Tür einen Spalt. Auch dieser Raum
hatte steinerne Mauern – wie die Galerie wirkte er älter und strenger als der
Rest des Hauses. In der Mitte des Zimmers befand sich unter einem schmalen
Bogenfenster ein Flügel, an dem der Herzog saß. Er betrachtete die Tasten mit
düsterem Blick, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. Dann begann er zu
spielen. Cora erkannte das Stück, es war eine Beethoven-Sonate – aber so hatte
sie sie noch nie gehört. Sie begann mit einem Allegro con brio, doch unter den
Händen des Herzogs klang es nicht einfach nur schnell, es klang gefährlich.
Bei ihm war die Melodie dringlich, das Spiel zeugte von einer Ungeduld, den
Höhepunkt des Stückes zu erreichen. Der Herzog hatte seine Jacke ausgezogen
und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Cora konnte seine bloßen Unterarme erkennen und wie
die Sehnen sich anspannten, wenn seine Finger die Klaviatur hinauf- und hinuntereilten.
Bewegungslos stand sie da, unsicher, ob sie sich wünschte, dass er aufsah und
sie entdeckte. Hörte sie zu oder störte sie? Er spielte nur für sich, aber sie
konnte den Blick nicht abwenden. Sie war fasziniert davon, wie er sich in die
Tasten legte, als umarme er das Instrument, fasziniert von seiner vollkommenen
Versunkenheit. Er befand sich, da war sie sicher, ganz woanders. Und dann endete
der erste Satz mit einem langen Glissando, und er sah für einen Moment auf.
Zuerst sah er direkt durch sie hindurch, und dann sah sie, wie er ihre
Gegenwart bemerkte und sie mit einem argwöhnischen Lächeln bedachte.
Sie sagte nichts, wusste nicht, ob sie
sich entschuldigen oder sein Spiel loben sollte.
Schließlich sprach er zuerst.
«Kennen Sie das Stück?»
«Es ist Beethoven, nicht wahr? Mein
Musiklehrer hat es mir immer vorgespielt, aber nie auf diese Weise.» Cora war
ganz ehrlich. Sie war verwundert, dass dasselbe Stück so anders klingen
konnte.
«Die Waldsteinsonate. Er hat die
Gräfin Waldstein geliebt, aber es kam nicht in Frage, dass sie einen Musiker
heiratet. Er
hat das Stück für sie geschrieben, es aber offiziell ihrem Bruder gewidmet. Er war fast
vollständig taub, als er es komponiert hat.» Er sah auf die Tasten hinunter und
spielte eine Passage, die einer Auflösung
entgegenzustreben schien.
«Können Sie hören, wie er auf der Suche ist? Nach
Erfüllung?» Cora wollte gerade sagen, wie traurig es wäre, dass Beethoven sein
eigenes Stück nie hören konnte, blieb dann aber stumm. Ihr war klar, dass dies das
Naheliegendste war, was man sagen konnte, und sie wollte nichts Naheliegendes
sagen. Sie wusste, dass sie hier nur geduldet war. Was sie zuerst für das
Musikzimmer gehalten hatte, war ganz offensichtlich das Allerheiligste des
Herzogs. Auf den Fenstersimsen lagen mehrere Bücherstapel, und ein Schreibtisch
am hinteren Ende des Raumes lag voller Papiere. Es gab keine Stühle oder
Sofas, nur ein unbequem wirkendes Eisenbett.
«Sie
spielen sehr gut», sagte sie.
Er zuckte
die Achseln. «Sie sind zu freundlich. Ich spiele angemessen, das ist alles.
Aber für einen Mann spiele ich sicher sehr gut.»
Cora lächelte. Er hatte recht, sie
war überrascht gewesen, dass der Herzog überhaupt spielte. Ihrer Erfahrung nach
war das Klavier im Salon im Gegensatz zum Konzertflügel ein Instrument allein
für die Frauen.
«Meine Mutter hat es mir
beigebracht, als ich noch ganz klein war. Sie hatte keine Tochter, brauchte
aber jemanden, mit dem sie Duette spielen konnte. Sie hat mich nach dem Dinner
aufgefordert, und wir haben für ihre Gäste gespielt. Das Haus war damals immer
voll, ich hatte viel Gelegenheit.» Er begann mit übertriebener Süße ein
Wiegenlied von Brahms zu spielen. «Das war der Abschluss. Ich habe mir mein
eigenes Schlaflied gespielt und wurde dann ins Bett geschickt.»
«Spielen
Sie immer noch Duette?»
«Nein. Als ich größer wurde, hatten
wir nicht mehr dasselbe Tempo. Meine Mutter wollte immer, dass alles anmutig
klang. Ihr ging es um die Wirkung, während ich einfach gerne Klavier spiele.»
Er legte die Finger auf die Tasten
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