Daisy Sisters
zusehen, wie Linda mit offenen Augen in ihr Verderben läuft.
Eivor sieht hinaus in die vorbeiwirbelnde weiße Winterlandschaft. Eine gefrorene Welt, und an der Endstation wartet der Tod. Ein Kaffeewagen klappert vorbei, aber sie schüttelt den Kopf und kauert sich in ihrer Ecke zusammen. Es zieht vom Fenster her, nirgendwo kann man der Kälte entkommen. Sie denkt an Staffan, der jetzt zwanzig ist und seit über einem Jahr allein wohnt. Er kommt zurecht, er hat sein Auskommen gefunden in diesem neuen Bereich, Video, das alle kaufen oder kaufen wollen. Einige von seinen Freunden haben ein Geschäft eröffnet, in dem sie Filme verleihen, und Staffan ist ihr Handlanger. Er holt Filme aus Stockholm, er bedient im Geschäft, macht die Runde und treibt Filme ein, die nicht zurückgegeben wurden. Eivor weiß, dass sie vor allem Filme verkaufen oder ausleihen, gegen die jene Bilder, die die Wände im Essraum von Domnarvet schmückten, wie Kinderzeichnungen in einem christlichen Wochenblatt wirken. Einmal hat sie das kommentiert, und er hat sie nur verständnislos angeschaut und geantwortet, dass sie eben das verkaufen müssen, was die Leute haben wollen.
Aber er kommt zurecht, denkt sie, und was kann man heutzutage mehr erwarten? Die Gesellschaft befindet sich in einer Phase der Auflösung, ohne dass eine Alternative sichtbar wäre. Statt sich zu einem geschlossenen Widerstand zu versammeln gegen die Kräfte, die so viel wie möglich an sich reißen wollen, ist die Spaltung größer denn je. Sie hat es in ihrer eigenen Schicht gemerkt, jetzt, da die Kürzungen begonnen haben. Jeder kriecht in seine Ecke und versucht, sich vor dem Feind unsichtbar zu machen: Hauptsache, ich komme durch …
In wenigen Monaten wird sie vierzig. Es ist zwanzig Jahre her, dass sie ins Leben hinausging, die erste Etappe, vonHallsberg nach Borås … Im Sommer werden es vier Jahre, seit Peo und sie zusammengezogen sind. Nachdem sie zu Beginn ganz dagegen gewesen war, weil sie Angst hatte, ein neues Verhältnis hieße, dass sie nicht mehr im Werk arbeiten könnte, war es ihm schließlich gelungen, sie zu überzeugen. Warum sollte sie aufhören? Warum sollte er das wollen? Er zerstreute ihre immer schwächeren Argumente, meinte, sie sähe in jeder Ecke Gespenster, und schließlich gab sie zu, dass er recht hatte. Peo war nicht wie Jacob, die Zeit stellte andere Bedingungen, und bei diesem Mann würde sie sich nicht ständig unterlegen fühlen. Also war er eines Tages in die Wohnung in der Hejargata eingezogen, er kam gut zurecht mit den Kindern, und zu Beginn hatte Eivor den Eindruck, dass alles leichter wurde. Jede zweite Lebensmitteltüte trug er nach Hause, jedes zweite Essen bereitete er zu, jede zweite Krone steuerte er bei. Schwierig war natürlich, dass er nachts arbeitete, und einige Male kam es zu Zusammenstößen vor allem mit Staffan, der seine Musik so laut aufdrehte, dass Peo nicht schlafen konnte. Aber mit einigen Kompromissen hatten sie überlebt … Es war eine schöne Zeit, in der nicht jeder Abend nur erfüllt war mit dem Bangen vor dem morgigen Tag. Ein Leben, das die Schwierigkeiten lohnte !
Wann hatte sie eigentlich die ersten Veränderungen bemerkt? Sie meint selbst, dass Peo gegen Ende des zweiten gemeinsamen Jahres begann, Ansprüche zu stellen. (Als sie über die Sache geredet hatten, und es immer öfter in einem hoffnungslos festgefahrenen Streit mündete, hatte er bestritten, überhaupt irgendwelche Ansprüche gestellt zu haben.) »Man kann sich wohl ändern«, hatte er gesagt, als Eivor ihn daran erinnerte, worauf sie sich geeinigt hatten. Immer dieses bockige: Man kann sich wohl ändern .
Nach einem Streit ging es meistens für eine Weile gut zwischenihnen, aber dann hatte sie gemerkt, dass wieder sie die Lebensmitteltüten schleppte, aufräumte, alles machte. Im Sommer sagte er, dass er natürlich ihre drei Kinder gern habe, aber dass es nie dasselbe wäre, als wenn man eigene hätte.
Der Zug ruckt an nach einem Aufenthalt auf einem Bahnhof … Wo sind sie? Sala! Schon da … Sie denkt zurück an den Nachmittag vor einem Monat, als sie das Fahrrad vor dem Westeingang des Werks abstellte. Als sie sich entschloss, endlich ihren eigenen Wankelmut zu bekämpfen, den notwendigen Entschluss zu fassen und dann die Konsequenzen zu tragen, auch wenn all ihre Brücken einstürzen sollten. Da wusste sie noch nicht, dass Linda schwanger war. Damals ging es nur um ihre Entschlusslosigkeit: Sollte sie sich noch ein Kind
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