Daisy Sisters
ist eigentlich nur die schwarze Lederjacke, die ihm passt. Das andere wirkt wie in großer Eile zusammengerafft, vermutlich ist es gestohlen.
Der Junge ist dunkelhaarig, die Zotteln streben in alle Richtungen. Anders versucht, sein Alter zu bestimmen, und kommt zu der Überzeugung, dass er achtzehn ist.
»Siebzehn«, bekommt er zur Antwort, als er fragt.
»Wie heißt du?«
»Lasse.«
»Und weiter?«
»Nyman. Ich dachte, das Haus hier wäre unbewohnt. Ich wollte nicht …«
»Halt die Klappe, bis du gebeten wirst, dich zu äußern!«
Anders kann herrisch sein, wenn er will, und das genau will er jetzt. Aber zu seiner Verbitterung merkt er, dass er dabei ist, sich vollzupinkeln. Es läuft schon an den Hosenbeinen herunter, und er kann jetzt nicht zum Abfluss laufen und den Rest da rauslassen, dann könnte er dem Jungen gleich erklären, was für ein armseliger Alter er eigentlich ist. Soll der Urin also rinnen, und er setzt sich, um den größer werdenden Fleck zu verbergen.
Plötzlich fängt der Junge an zu weinen. Ein Weinen aus Wut und Verbitterung. Anders vergisst fast die vorübergehende Wärme, die man fühlt, wenn man sich in die Hose pisst. Er selbst hat seit über dreißig Jahren keine Träne mehr vergossen, und er war der Meinung, dass die Leute heutzutage nur noch im Kino weinen.
Aber der siebzehnjährige Lasse Nyman weint, wenn er auch die Beherrschung schnell wiedergewinnt und wütend die Tränen aus dem Gesicht wischt.
»Wie fühlst du dich?«, fragt Anders. »Hier kannst du ganz ruhig sein. Hier sind nur die Katze und ich, die hier sitzen und saufen.«
Eine Katze, die säuft?
Lasse Nyman lacht plötzlich los und zeigt hoffnungslos ungepflegte Zähne.
»Willst du einen Schluck?«, fragt Anders, und der Junge nickt. Anders zeigt auf die Spüle, und der Junge holt ein Glas. Anders gießt Branntwein ein. Lasse Nyman leert das Glas in einem Zug, ohne sich zu schütteln.
»Jetzt bist du an der Reihe«, sagt Anders. »Aber lüg nicht. Da werde ich wütend.«
»Gibst du mir eine Chance?«, sagt Lasse Nyman. Anders lokalisiert sofort seinen Dialekt: Stockholms Süden. »Wie hast du dir gedacht, die Chance zu nutzen, wenn man fragen darf?«, antwortet er schnell im selben Dialekt. Sehr richtig wird der Junge völlig aus der Fassung gebracht und reißt erstaunt den Mund auf. Anders wechselt schnell zurück in die Sprache, die er normalerweise spricht. »Also, zum Teufel«, sagt er. »Warum rennst du mitten in der Nacht hier in Hallsberg herum?«
Lasse Nymans Antwort kommt prompt. »Hallsberg?«, sagt er verwundert. »Hallsberg …«
Er weiß also nicht, wo er ist. Ist er aus dem Zug gefallen? Anders sieht, wie er zögert und den einen Mittelfingernagel bis zur Wurzel abkaut.
»Ich habe wohl keine Wahl«, sagt er schließlich. »Ich bin auf der Flucht. Aus dem Jugendgefängnis in Mariefred. Ich bin Freitag abgehauen.«
Heute ist Montag. Seit vier Tagen ist er also auf dem Weg von Mariefred nach Hallsberg.
»Jetzt sollst du, Teufel noch eins, ein bisschen ausführlicher antworten«, sagt Anders. »Aber lüg nicht, denn dann bekommst du Ärger.«
Sagt er, der Urin-Alte, der noch nicht einmal seine Blase unter Kontrolle hat …
Aber Lasse Nyman erzählt, und es scheint ihn zu erleichtern. Und das, was aus ihm herauskommt, in unvollständigen Sätzen, die zu nichts führen, in seiner dürftigen Sprache, die von Flüchen zusammengehalten wird, ist keine besonders erschütternde Geschichte. Es ist eigentlich nur das alte Lied: Lasse Nyman ist der Spross eines versoffenen und gewalttätigen Gelegenheitsarbeiters, der seine Frau von Zeit zu Zeitschlägt und es nebenher auch schafft, sie zu schwängern. Eine feuchte Einzimmerwohnung im Slum der Hornsgata ist Lasses Kindheitsmilieu, und er flüchtet auf die Straße, sobald er laufen kann. Schläge bekommt er regelmäßig, und wie soll er sich auf die Schularbeiten konzentrieren, wenn jeden Nachmittag ein neuer Zweikampf wartet? Als er zwölf ist, versucht er, eine Schneise in diese Hölle zu schlagen, indem er ganz einfach seinem Vater eine Axt in den Kopf haut. Aber der Schlag ist schlampig ausgeführt, er hat nicht gezielt; so gelingt es ihm nur, seinem Vater ein Ohr abzuschlagen. Das Blut spritzt, Mama wird ohnmächtig, und die Polizei poltert durch das Treppenhaus. Da landet er zum ersten Mal in den Akten von Götaverket (ja, das heißt so) und trotz des Makels, dass er eine vielversprechende Totschlägerbrut ist, kann er sicherlich in einer
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