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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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… Tot und begraben in Hallsberg.
    Als die Uhr auf sieben zugeht, steht er auf und macht sich auf den Weg nach Hause.
    Sein Haus ist klein und rot und liegt in einem zugewachsenen Garten. Es gibt nur einen Kartoffelacker und knotige Apfelbäume, um die er sich kümmert; Kartoffeln und kleine unreife Äpfel bekommt er jedes Jahr genug. Das Haus besteht aus Küche und Kammer und einem kleinen Schlafalkoven. Im letzten Jahr ihres Lebens hat die Schwester noch elektrische Leitungen verlegen lassen, das Linoleum auf dem Boden erneuert und die alte Kücheneinrichtung rausgeworfen. Jetzt glänzt alles rostfrei, und er hat sowohl einen elektrischen Herd als auch einen Kühlschrank. Aber ihre Möbel stehen noch am selben Platz, und die Wandbehänge mit den gestickten frommen Texten hängen noch genauso da wie bei seinem Einzug. Als er aus Örebro nach Hallsberg kam, nachdem er sein Erbe, den Schlüssel und ein Sparbuch, bei der Rechtsanwaltsfirma Åkerman quittiert hatte, war alles, was er bei sich hatte, ein zerschlissener Reisekoffer, von Schnüren zusammengehalten. Der Koffer enthielt ein Paar Galoschen, schmutzige Hemden, eine Weste mit Blumenmuster, einen gesprungenen Schminkspiegel und ein paar alte Werbezettel für Abd-ur-Rama, Anders aus Hossamåla und den garantiert lustigen und stimmgewaltigen Malaien »42 Klingen«. Dazu ein Pass und diverse Zeugnisse.
    Seit drei Jahren sitzt er nun mit seinen Erinnnerungen am Küchentisch, holt eine nach der anderen hervor, betrachtet sie und stopft sie zurück ins dunkle Versteck seines Gehirns. Ein verwildertes Katzenjunges hat er zu sich genommen. Das saß eines Morgens auf der Treppe und miaute, das Fell war abgescheuert und voller Läuse. Wenn die Katzen nachts draußen heulen, verschwindet es, aber es kommt immer wieder zurück, schlimm zugerichtet und mit zerfetzten Ohren. Aber was macht das, Hauptsache, es kommt zurück und fühlt sich auf Anders’ Knien zu Hause.
    Neben seinem Haus steht ein gelbes Mietshaus. Durchsein Küchenfenster bekommt er einen guten und vielseitigen Einblick in das Alltagsleben der Menschen von heute. Drei Küchenfenster und drei Schlafzimmerfenster muss er im Blick behalten, um zu wissen, was in der Welt geschieht. Das Haus ist ausschließlich von Angestellten der Eisenbahn bewohnt, »seine Fenster« gehören zwei Bahnhofsarbeitern und einem Rangierlokomotivführer. Sjögrens wohnen in der unteren Etage, und das ist ein Glück für ihn. Frau Sjögren ist eine auffallende junge Dame, kaum älter als dreißig Jahre. Sie hat die angenehme Gewohnheit, sich auszuziehen, ohne die Rollos herunterzulassen. Sie ist dunkelhaarig und stattlich, hat große Brüste, die bei jeder Bewegung schwingen und vibrieren. Hat er richtig Glück, so bückt sie sich nach etwas auf dem Boden, und dann kann er direkt in die große Herrlichkeit hineinsehen.
    Sie steht oft am Fenster und kämmt sich. Aber manchmal sinkt die Hand, die den Kamm hält, und sie starrt geradeaus in die Nacht. Anders versucht sich vorzustellen, woran sie denkt. Kummer hat sie wohl kaum, alles wird ja nur besser und besser jeden Tag. Nein, sie hat wohl die Gabe, in die Zukunft zu sehen … Ist wirklich alles vergänglich? Wird nichts zurückbleiben? Wird die Welt sich so verändern, dass eine Tapete über die andere geklebt wird und sich keiner daran erinnert, wie die, die daruntersitzt, aussah?
    Neuntausend Kronen hat er von seiner Schwester geerbt. Wie konnte sie so viel zusammensparen, sie, die ihr ganzes Leben lang Wagenreinigerin war? Und noch seltsamer ist es, dass sie ihm diese ungeheure Summe testamentarisch überlassen hat. Wohl haben sie dann und wann Kontakt gehabt; war er in der Nähe von Hallsberg, so hat er sie besucht. Und obwohl sie aktiv im Missionsverbund war, hat sie nie gezögert, ihn auftreten zu sehen. Vielleicht empfand sie es als genauso wichtig, ihn vor der Vereinsamung im Altersheim zuerretten, wie die Christianisierung der Heiden im entlegenen Afrika? Das ist die einzige Erklärung, die er geben kann. So hält er Ordnung auf ihrem Grab auf dem Friedhof, das ist alles, was er als Beweis für seine Dankbarkeit tun kann.
    Es ist also April 1956, und er hat einen Entschluss gefasst. Jetzt soll es bald genug sein mit dem Leben. Wenn er es jetzt nicht einmal mehr schafft, das Pissen unter Kontrolle zu halten, sondern eine über die andere Nacht in seinem durchnässten Bett aufwacht, wo es schließlich so gewaltig nach Urin stinkt, dass selbst die Katze anfängt, die Nase kraus

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