Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
und es überkam mich wie ein Schwall an Erkenntnissen.
Ja, sicher hätte ich aus diesem Leben ausbrechen können. Ich hätte ausbrechen müssen. Was mir in den Kinderjahren und vielleicht auch später in meiner Jugendzeit noch nicht möglich gewesen war, wäre später möglich gewesen. Ich hatte ja wirklich nichts hinterfragt. Als man Jacques und mich vermählte, wurde ich nicht zur Schlachtbank geführt. Ich hatte förmlich danach geschrien, dass ich zur Schlachtbank gehen durfte. Den Gang der Dinge, den immer andere für mich geplant hatten, habe ich so hingenommen. Damals wie auch heute. Ich schämte mich so. Ich schämte mich ob meiner Dummheit, ob meiner bodenlosen Naivität. Als diese Gedanken endlich, nach all diesen Jahren, an die Oberfläche meines Bewusstseins stiegen, saß ich nur noch stumm da und starrte auf den Boden vor mir.
Eine Zeitlang überließ Gavin mich meiner ach so späten Erkenntnis. Dann strich er mir sanft über den Arm und forderte mich mit seiner leisen Stimme auf, weiterzusprechen. „Erzähl mir nun auch noch von Deinem Leben hier in der Bretagne.“ Er hielt meine Hände weiter ganz fest in den seinen.
Als ich ihm von Jacques Verhalten erzählte, unterbrach mich Gavin. „Was hast Du damals in den Augen Deines Gatten gesehen?“
Vor Scham schlug ich die Augen nieder, als ich an diesen Blick dachte. Die Worte „Abscheu, Verachtung, Hass, Vernichtung“ sprudelten nur so aus mir heraus. „Und“, fragte Gavin mich, „mehr nicht?“
„ Mehr nicht? Reichte das denn nicht? War das nicht niederschmetternd genug?“, fragte ich Gavin. In den Augen von Jacques war ich so abscheulich, dass er nicht einmal eine Nacht das Bett mit mir teilen wollte. Mehr nicht?
„ Abscheulich? Nein“, sagte Gavin, „abscheulich fand er Dich nie. Und er hasst Dich wahrlich nicht. Ebenso wenig hat er Dich vernichten wollen. Eine gewisse Verachtung seinerseits war im Spiel, wohl wahr. Verachtung dafür, dass Du Dich damals nicht gegen diese Verbindung gewehrt hast. Verachtung dafür, was die Folge war.“
Sprachlos sah ich in Gavins Richtung. Er schwieg einen kurzen Moment, bevor er weitersprach. „Du allein warst damals Jacques letzte Chance, jedenfalls glaubte er es, frei zu sein. Frei zu sein für seine große Liebe Lille, eine junge und wunderschöne Frau aus einfachsten Verhältnissen. Frei zu sein für Lille, die sein Kind unter dem Herzen trug. Er hatte damals alles daran gesetzt, Dich nicht ehelichen zu müssen, es war umsonst. Seine Eltern oder besser gesagt sein Vater ließen Lille durch Mittelsmänner wissen, dass sie im Leben ihres Sohnes keine Rolle spielen würde, er hätte seinen Spaß mit ihr gehabt; gaben ihr ein bisschen Geld und hießen sie, die Gegend zu verlassen. Jacques selbst hätte vielleicht nie davon erfahren, wenn Lille ihm nicht eine Nachricht hätte zukommen lassen, in der sie ihn nach dem Warum fragte. Eine Nachricht, in der sie Abschied nahm. Abschied von ihrer großen Liebe, Abschied von diesem Leben, nur ihr noch ungeborenes gemeinsames Kind würde sie mitnehmen. Als Jacques die Nachricht erhielt, eilte er los, er suchte alle Plätze auf, an denen sie sich heimlich getroffen hatten. Aber er kam zu spät. Ihr Körper baumelte leblos im Wind, bar jeden Lebens.“
Ich hörte Gavins Worten gebannt zu. „Woher weißt Du all das, Gavin?“
„ Ich weiß alles, ich bin der Befreier dieser Höhle und damit weiß ich all die Dinge, die hier geschehen, die in dieser Gegend geschehen. Höre, was die Menschen denken und sagen. Höre, was Wind und Meer mir mitzuteilen haben.“ „Warum hat Jacques nicht mir gesprochen?“
„ Hättest Du es denn verstanden? Du wusstest doch von nichts oder? Du hast nie etwas hinterfragt oder? Jacques konnte nicht mit einem Kind sprechen. Trotzdem hättet ihr Euer Leben anders leben können. Aber Ihr habt es nicht getan. Keiner von Euch hat es jemals versucht. Du bist nicht schuld an alldem, denke das nicht von Dir.“
Gavin strich mi r sanft und ermutigend über den Rücken, wie um mich ein wenig zu stärken. Leise sprach er weiter.
„ Viele Menschen haben zu Deinem Leben beigetragen, es geformt. Deine Eltern, Schwiegereltern, Jacques, selbst die Privatlehrer und Dienstboten. Von ihnen muss jeder selbst klar kommen, muss jeder selbst seine Schuld abtragen. Das ist nicht Deine Aufgabe. Es gibt nicht viele Menschen wie Dich, mein liebes Kind, denen andere Menschen alles vorenthalten, die auf eine ganz eigene und so unglaubliche wie
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