Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
unwirkliche Art und Weise dem Leben entzogen werden. Aber Du gehörst dazu. All die Menschen, die in diesem Kreis in Stein gemeißelt sind, gehörten dazu. Es ist dabei egal, ob ich eine ihrer Geschichten oder Deine Geschichte höre. Die Geschichten sind gleich. Die kleinen Unterschiede spielen hier keine Rolle.“
So lauteten Gavins Worte, die er an mich richtete. Wie versteinert saß ich neben ihm und wusste nicht, was ich von alldem halten sollte. Wieder schaute ich in seine Richtung und er verstand. Er las meine Gedanken und er sah meine Unsicherheit. Er näherte sich meinem Gesicht und stellte leise eine Frage.
„W as bedeuten Dir all die Menschen in Deinem Leben? Früher wie auch heute.“
Zwar war ich etwas erstaunt, aber meine Antwort war einfach und klar.
„In meinem Leben hatte kein Mensch eine wirklich Bedeutung. Früher nicht. Heute nicht. Herr Brahmann war sehr nett zu mir, aber er hatte nicht wirklich eine Bedeutung. Marie, oh mein Gott, was ihr passiert ist, tut mir immer noch so furchtbar leid, aber Marie hat für mich persönlich keine Bedeutung. Monsieur Salomon war ein Mensch, der für ein paar Stunden an meiner Seite war, ihm hätte ich vertrauen können, aber unsere Wege trennten sich nach nur kurzer Zeit. Ich kannte doch keinen von ihnen.“ Ich schluckte schwer, sprach aber schnell weiter.
„ Meine Eltern und meine Schwiegereltern haben sich schon vor so langer Zeit von mir abgewandt. Es gibt keinen Stammhalter. In ihren Augen bin ich an allem schuld. So viele gute Lehrer, so viele gute Benimmregeln, so ein gutes Zuhause, aber ich war und bin nicht einmal in der Lage, kurzfristig einen Mann an mich zu binden.“
Ich gönnte mir eine kurze Verschnaufpause, bevor ich weitersprach.
„Aber es gab auch eine andere Zeit. Eine kurze Zeit zwar, aber es gab eine Zeit in meinem Leben, wo ich Freunde hatte; wahrscheinlich auch noch Freunde habe. Weit weg von mir, aber doch in meinem Herzen und ich in ihren.“
Ich schluckte schwer.
„Die schönste Zeit meines Lebens verbrachte ich mit maman Sofie. Die Reise mit ihr von Saarlouis hierher, nach Pointe du Raz, zusammen mit Heinrich, Alfred und Toby. Ich lernte kurz, nur ganz kurz, ihre Familie in Saarlouis und hier in Frankreich kennen. Ich habe gelernt, was Freundschaft ist, was Verbundenheit bedeutet. Aber sie wurden mir genommen. Die einen durch Mord, die anderen durch die Ferne.“ Wieder sah ich in Gavins Richtung.
„Aber ich hätte lernen müssen, hätte handeln müssen !“
Diese letzten Worte rief ich laut und fing leise an zu weinen.
Gavins nächste Frage folgte schnell.
„Was bedeutest Du Dir selber?“
In diesem Moment konnte ich nicht anders. Meine Tränen versiegten und ich lächelte ihn an.
„Ich bin mir selbst genug. Ich kenne es ja nicht anders.“
Einen kleinen Moment schwieg ich.
„Aber die Sehnsucht nach Freiheit, nach Abenteuer und nach Liebe, ja, die ist da und diese Sehnsucht bedeutet mir viel. Auch wenn alles bisher im Verborgenen war, die Sehnsucht steckt in mir. Sie hatte und hat keine laute Stimme. Wie auch? Ich habe ihr ja nie eine Stimme gegeben.“
Keiner von uns sagte etwas, wir waren für den Moment eingehüllt in ein zufriedenes Schweigen. Ich war es, die das Schweigen brach.
„Was hat es mit dem Stier auf jeder Zeichnung und mit all den mir unbekannten Zeichen auf sich?“
Gavin ließ meine Hände los und erhob sich von seinem Platz. Er ging den runden Platz entlang und zeigte auf die einzelnen Reliefs.
„ Die Zeichen“, so sagte er, „stehen für den alten Namen dieser Menschen, die nie gelebt haben, nie wirklich am Leben teilnahmen. Die anderen Zeichen auf den einzelnen Reliefs stehen für die neuen Menschennamen, stehen für Leben und Freiheit.“
„ Und die Stierzeichnungen“, fragte ich, „was hat es mit den ganzen Stierzeichnungen auf sich?“
„ Stiere stehen in meiner Welt für Befreiung, für Mut, Schutz und Liebe“, antwortete Gavin mir mit seiner leisen, melodiösen Stimme. Ich schaute auf die Reliefs, schaute zu Gavin und wieder zurück.
„ So sind all diese Menschen, die hier abgebildet sind, aus ihrem nutzlosen und traurigen Dasein von Stieren befreit worden?“, fragte ich.
„ Ja“, antwortete Gavin, „so ist es. Sie alle sind immer von ein und demselben Stier in ein neues Leben geführt worden.“
„ Wo ist der Stier“?, fragte ich. „Wonach entscheidet er? Was ist mit mir?“
Die letzte Frage schrie ich fast. Gavin kam wieder auf mich zu und nahm meine
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