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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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keine Wahl hatte. Im Fall des Falles würde er sie töten müssen, sie hatte ihn deutlich gesehen, sie würde ihn später wiedererkennen. Eine Mischung aus Erregung und Furcht durchströmte ihn. Wenn jetzt ein Auto käme oder ein Spaziergänger, dann würde nichts geschehen. Nichts. Die Frau würde sich kurz über ihn wundern, vielleicht heute Abend ihrem Mann davon erzählen, und ihn danach vergessen. Einen Moment lang erschien dem Jungen diese Vorstellung reizvoll. Er musste ihr nichts tun. Es konnte alles so bleiben, wie es war. Er heftete seinen Blick auf die Frau und hörte aus purer Neugier auf, sich zu verstellen. Sein Lächeln verschwand, er fletschte die Zähne wie ein Wolf und begann zu knurren. Er fühlte sich großartig dabei, als würden ihn fremde Kräfte übernehmen und seine Energien bündeln wie einen Laserstrahl.
    Die Erstarrung der Frau löste sich in derselben Sekunde. Mit einem kurzen, wehen Laut drehte sie sich um und lief die Straße in der Richtung entlang, aus der sie gekommen war. Der Junge ließ sofort sein Rad fallen und verfolgte sie zu Fuß. Er war jetzt eine auf Töten programmierte Maschine, stark und unerbittlich. Er nahm jetzt nichts mehr wahr außer seinem Opfer. Im Laufen zog er den Hammer aus der Manteltasche und legte ihn locker in die linke Hand. Als er dicht hinter der Frau angelangt war (natürlich hatte sie keine Chance gegen ihn), streckte er den rechten Arm aus und packte sie an ihrem Mantelkragen.
    »Stehen bleiben«, donnerte er ihr mit seinem schönsten Vopo-Bass ins Ohr. Sie dachte gar nicht daran, versuchte vielmehr verzweifelt, sich ihm zu entwinden, und schließlich landeten beide auf dem harten, brüchigen Asphalt. Sie war für eine so kleine Frau erstaunlich kräftig, aber schließlich hatte der Junge sie doch bäuchlings auf die Straße gezwungen und drückte sein Knie in ihren Nacken. Er nahm den Hammer in die rechte Hand, und weil er in dieser Position nicht richtig ausholen konnte, schlug er sie mit ihm auf die Schläfe. Die Frau schrie auf und wand sich unter ihm wie verrückt. Er platzierte einen zweiten, gezielten Schlag auf nahezu dieselbe Stelle, aber auch diesmal klappte es überhaupt nicht. Die Frau wurde nicht einmal bewusstlos. Stattdessen brüllte sie wie am Spieß vor Schmerz und Angst, und schließlich wurde der Junge von solch einem Zorn gepackt, dass er nicht mehr in der Lage war, saubere Arbeit zu leisten.
    Er warf den Hammer weg und drückte ihr mit seinem Unterarm die Kehle so gewaltsam zu, dass sie verstummte. Nicht mal ein Röcheln brachte sie noch zu Stande. Stattdessen hörte er ein vernehmliches Knacken (aus seinen medizinischen Unterlagen wusste er, dass er ihr wahrscheinlich das Zungenbein gebrochen hatte). Er zog ihren Kopf nach hinten und verdrehte ihn nach links. Ein zweites Knacken, und ihr Körper erschlaffte endgültig.
    Dieses Gefühl war überwältigend. Der Junge wäre am liebsten aufgestanden und hätte seinen Triumph in die Welt hinausgeschrien. Hätte ihn jetzt jemand gesehen, er hätte nicht davonlaufen können. Dieses Opfer war jetzt seins, SEINS, und er konnte damit machen, was er wollte. Niemals hätte er es kampflos jemandem anders überlassen. Er drehte die Tote auf den Rücken. Sie hatte Schürfwunden am Kinn, auf der Nase und auf der linken Backe, weil er sie so heftig auf den Asphalt gepresst hatte. Augen und Mund waren aufgerissen zu einem stummen Schrei. Der Junge nahm seine Beute und schleppte sie von der Straße weg zum nahe gelegenen Waldrand. Mittlerweile war es beinahe dunkel. Gut, dass er an alles, also auch an eine Taschenlampe gedacht hatte. Er sah zum Himmel und lächelte. Zum ersten Mal war er sicher, in hundertprozentiger Weise seiner Bestimmung gemäß gehandelt zu haben, und auch wenn sich dieses schöne Gefühl wieder verflüchtigen würde, die Euphorie gepaart mit der Vorfreude auf das, was jetzt geschehen würde, würde er sich bewahren, das schwor er sich.
    Die Leiche war schwerer, als er gedacht hatte. Schließlich schulterte er sie wie einen Kartoffelsack und legte sie keuchend etwa hundert Meter von der Straße entfernt hinter einem Gebüsch ab. Die Blätter schienen ihm als Sichtschutz dicht genug zu sein, selbst wenn er seine Taschenlampe einschaltete. Aber im Grunde war ihm das egal – etwas in ihm wünschte sich sogar, gesehen zu werden. Etwas in ihm sehnte sich nach einem Zuschauer, als sei er ein Hund, der seinem Herrn ein Stöckchen vor die Füße legte und danach voller Stolz über

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