Damals warst du still
Seine Möglichkeiten waren begrenzt, aber er würde das Maximum aus ihnen herausholen. Er war groß und relativ kräftig geworden, viel muskulöser noch als im vergangenen Jahr: Wenigstens in dieser Hinsicht hatte sich einiges verbessert.
Seine wichtigste Eigenschaft musste Geduld sein. Diesmal sollte nichts schief gehen.
Drei Wochen vergingen, in denen nichts passierte, außer dass sich der Junge Arme und Beine beim Radfahren über Stock und Stein zerkratzte, in der Hoffnung, auf eine einsame Spaziergängerin zu stoßen. Eines Abends war es dann so weit. Das Wetter war kühl, tagsüber hatte es mehrmals geregnet, aber nun war der Himmel klar. Der Junge fuhr auf einer Landstraße voller Schlaglöcher, deren Asphaltplatten sich so weit auseinander geschoben hatten, dass zwischen den Lücken Gras und Unkraut wuchsen. Er passierte eine enge Kurve, dann sah er eine Frau, die etwa fünfzig Meter vor ihm lief, eilig, mit etwas unsicheren Schritten, in einen dünnen Sommermantel gehüllt. Den rechten Arm hielt sie angewinkelt, wahrscheinlich um den Mantel vorne zuzuhalten, der linke Arm schlenkerte steif und ungeschickt im Rhythmus ihrer Schritte hin und her. Das sah merkwürdig aus und der Junge überlegte kurz, ob sie vielleicht behindert war. Diese Vorstellung bremste ihn; er hörte auf, in die Pedale zu treten und fiel zwanzig, dreißig Meter zurück. Die Frau vor ihm wurde kleiner und kleiner. Der Junge zögerte. Er wollte keine Behinderte, er wollte eine richtige, erwachsene Frau.
Andererseits hatte er nun keine Lust mehr, noch länger auf das ideale Opfer zu warten . Man kann sie sich nicht backen , dachte er und beschleunigte seine Fahrt, bis er die Frau wieder deutlich sehen konnte. Dann ließ er das Rad im Leerlauf rollen und wartete, ohne genau zu wissen, worauf. Es war sieben Uhr abends, die Sonne ging unter und tauchte die Landschaft in rotgoldenes Licht. Danach verwischte die langsam einsetzende Dämmerung die Konturen der Apfelbäume, die die Straße wie eine Allee säumten. Er beschleunigte erneut. Die Frau sah sich nicht um, aber der Junge bildete sich ein, dass sie immer schneller ging, je näher er kam, als würde sie etwas ahnen, ohne es genauer wissen zu wollen, so wie man es als Kind tat, wenn man Angst hatte: Man kniff ganz fest die Augen zu, im magischen Glauben, dass sich Gefahren auflösten, wenn man sie nicht beachtete.
Der Junge umfasste mit der linken Hand den Hammer, den er in der tiefen Tasche seines Regenmantels verborgen hatte. Die Luft war immer noch feucht und kühl, sein Atem produzierte Dampfwölkchen. Er verlangsamte seine Fahrt und blieb schließlich neben der Frau stehen. »Entschuldigung«, rief er mit seinem aufgesetzt höflichen Lächeln, das noch den strengsten Lehrer, den verbissensten Fähnchenführer überzeugt hatte.
Aber nicht Bena, nicht seine Mutter und auch nicht diese Frau. Sie schien deutlich zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war und wich ein paar Schritte zurück. Sie sah nicht behindert aus, besonders helle allerdings auch nicht. Sie war schlank, ungefähr Ende vierzig und hatte ein kleines, graues Mäusegesicht, umrahmt von kurzen krausen Haaren. Der Junge stieg von seinem Rad, machte eine besänftigende Bewegung mit der Hand und bewegte sich ansonsten nicht. Sie sollte von allein näher kommen; eine Verfolgungsjagd mit lautem Hilfe-Geschrei war ihm zu riskant. Er wartete ein paar Sekunden, bis die Frau tatsächlich auf ihn zukam, dann aber unschlüssig stehen blieb, zu weit weg von ihm, als dass er ihr etwas hätte tun können.
»Können Sie mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?«, fragte er mit der freundlichsten Stimme der Welt. Die Frau stand regungslos da, die rechte Hand um das Revers ihres Mantels gekrampft und antwortete nicht, als sei sie vor Angst gelähmt. Der Junge nahm sein Rad und ging langsam auf sie zu. »Ich wollte nur die Zeit wissen«, sagte er. »Um halb acht muss ich nach Hause.«
»So«, sagte die Frau, nun offensichtlich darum bemüht, ihre Fassung zu bewahren. Noch immer bewegte sie sich nicht.
»Ja«, sagte der Junge. »Könnten Sie... Haben Sie vielleicht eine Armbanduhr?«
Er wusste selbst nicht so recht, wie es jetzt weitergehen würde. Ob er den Mut haben würde, die Frau frontal anzugreifen und ihr ins Gesicht zu sehen, wenn er auf ihr kniete, mit der linken Hand ihre Kehle zudrückte und mit der Rechten den Hammer schwang, um dann den finalen Schlag zu landen? Er hatte keine Ahnung, ihm war nur klar, dass er heute
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