Damals warst du still
Seminar offiziell zu Ende sein würde, würde sie wieder versuchen, ihn zu erreichen. Dann würde sie Fabian nach seinem Verbleib fragen, dann feststellen, dass er den letzten Tag nicht anwesend war, dann... David überlegte. Sie würde den Polizeiapparat anwerfen. Eine Formulierung, die ihm so gut gefiel, dass er sie in Gedanken noch einmal wiederholte. Den Polizeiapparat anwerfen: Das klang nach einer perfekt geölten, hundertprozentig effizienten Maschinerie, die auf Knopfdruck funktionierte, was nicht ganz seinen tatsächlichen Erfahrungen entsprach, aber den Zweck erfüllte, ihn zu ermutigen. Es hatte nämlich keinen Sinn zu schlafen und sich auszuruhen. Zu viel Ruhe würde ihn nur schwächen, und er musste stark bleiben, um das hier so lange wie möglich zu überleben. Nein, er würde nicht aufgeben, er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, denn dabei konnte er nur gewinnen.
David versuchte, seine Hände und Füße trotz der engen Fesseln zu bewegen, damit ihm die Glieder wenigstens nicht komplett abstarben. Er spürte seine Füße kaum noch und versuchte deshalb seine Zehen abwechselnd anzuspannen und zu lockern. Nach einigen kraftlosen Bemühungen begann sein rechter Fuß immerhin zu kribbeln. Seine Hände schienen in Ordnung zu sein; er hatte Gefühl in allen zehn Fingern und konnte sie auch mühelos bewegen. Das war gut. Nicht so gut war, dass ihm sofort sterbensübel wurde. Er hielt sich sofort still. Regungslos. Leise und regelmäßig durch die Nase atmen. Auf keinen Fall würgen.
Der Brechreiz ging vorüber, aber der Kopfschmerz wurde so stark, dass es kaum auszuhalten war. Wieder trat ihm Schweiß auf die Stirn, er fühlte sich zu Tode erschöpft und sehr allein. Ihm kamen die Tränen, so Leid tat er sich. Vielleicht war es am besten, er verabschiedete sich zumindest schon einmal in Gedanken von all den Menschen, die ihm viel bedeuteten. Er dachte an seine Eltern, seinen verstummten Vater und seine verschüchterte Mutter: Wie glücklich er als Kind gewesen war, bevor sein Vater, vielmehr dessen Stolz, Würde und Lebenslust, unwiderruflich zerstört wurden und er seinen Schmerz an seine Familie weitergegeben hatte. Danae …
Er bekam keine Luft mehr und hörte sofort auf zu weinen. Mit Gewalt blies er Tränen und Rotz durch die Nase auf den Steinboden unter sich und atmete tief ein. Plötzlich bildete er sich ein, etwas zu sehen. Es war nur sehr schemenhaft – ein helles Quadrat, das sich allmählich aus der totalen Finsternis schälte. David beschloss, daran zu glauben. Er starrte das Quadrat an wie eine Erscheinung, aber es veränderte sich nicht, wurde weder heller noch dunkler. In seiner direkten Umgebung konnte er weiterhin nichts sehen. Er wurde schläfrig, als habe ihn jemand unter Drogen gesetzt. Vielleicht war dieses langsame Gleiten hinaus aus der bewussten Wahrnehmung der Beginn einer langen Reise in den Tod.
13
1989
Kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag beging der Junge seinen ersten echten Mord. Die Geschichte mit dem kleinen Mädchen lag nun ein halbes Jahr zurück, und die Erinnerung daran hatte sich in den Köpfen der Leute allmählich verflüchtigt. Das war möglich, weil es hier zu Lande keine Medien gab, die eine Schauergeschichte dieser Art genüsslich so oft hochkochen ließen, bis sich selbst die gelassensten Gemüter in einem Land voller perverser Mörder wähnten.
Diesmal wollte der Junge alles richtig machen. Opfer sollte am liebsten eine Frau sein, kein Kind. Das Problem mit der Betäubung war allerdings nicht gelöst, deshalb würde der Akt wieder relativ gewaltsam ablaufen, was der Junge nicht mochte, aber angesichts der Gegebenheiten nicht ändern konnte. Das ideale Szenario verlief in seiner Vorstellung ohne Gewalt, denn nur dann war eine saubere Arbeit möglich. Da der Junge weder Zugang zu Narkotika noch zu Drogen hatte, musste er sich mit einem gezielten Schlag behelfen, der seine Zielperson ausschaltete (er nannte sein Opfer Zielperson wie in westlichen Fernsehkrimis, wohl wissend, dass dort etwas ganz anderes damit gemeint war).
An den ersten warmen Tagen und Abenden begab er sich, ausgerüstet mit einem Hammer, einer Rolle Paketklebeband und einem Messer, auf Menschenjagd. Er wusste, dass er sich auf den Zufall verlassen musste (wenn er keine Frau fand, musste es eben wieder ein Kind sein), denn er hatte kein Auto und nicht einmal annähernd so viel Freizeit, dass er sich stunden- oder tagelang auf die Pirsch begeben konnte, bis wirklich alles stimmte.
Weitere Kostenlose Bücher