Damals warst du still
Füße waren gefesselt, was ihn komplett wehrlos machte. Er war nicht in der Verfassung zu kämpfen. Sein erstes Ziel musste es jetzt sein, sich zu erholen. Zu schlafen, statt zu grübeln, um eventuellen Panikgefühlen keinen Angriffspunkt zu bieten. David machte die Augen zu und versuchte, an Sandy und an Debbie zu denken. Mit aller Macht vergegenwärtigte er sich friedliche, schöne Momente mit seiner Frau und seiner Tochter. Gut, dachte er mit einem Anflug von Galgenhumor, viele solcher Momente hatte es in letzter Zeit nicht gegeben – eigentlich konnte er sich viel leichter an Zank und stundenlanges Kindergeschrei erinnern als an Liebe und Harmonie.
Na schön, dann dachte er eben daran. Es ging ja nur um die Ablenkung.
Aber sobald er das beschlossen hatte, kamen dann doch ganz andere Bilder. Sandy, jung, blond, schön und leidenschaftlich verliebt in David – die erste Frau, die in der Lage war, die verbotenen Gefühle für seine Schwester auszulöschen. Sandy, die taktvoll die Badezimmertür abschloss, wenn sie die Schwangerschaftsübelkeit schüttelte, weil sie wusste, dass sich David vor dem ständigen Erbrechen ekelte. Sandy, glücklich mit dickem Bauch im neunten Monat, als sie noch nicht ahnte, was auf sie zukommen würde – nach der Geburt.
Dann Debbie. Deborah. David hätte sie gerne Danae genannt, aber Sandy war aus irgendeinem Grund – vielleicht weil sie etwas ahnte – dagegen gewesen. Sie hatte sich mit Danae auch nicht sonderlich gut verstanden. In gewisser Weise waren beide Frauen immer Rivalinnen gewesen. David schloss die Augen. Ja – warum sollte er jetzt nicht an Danae denken? Seine Sehnsucht nach ihr musste er doch nicht länger unterdrücken, es war doch ohnehin eine fast ausgemachte Sache, dass er das hier nicht überleben würde. Niemand wusste, wo er war. Seine Frau war bei ihren Eltern und würde ihn demzufolge nicht vermissen. Seine Arbeitswoche begann erst wieder am Montagabend, also in drei Tagen, wenn er sich nicht irrte – und bis dahin war er hier verdurstet. Gut, KHK Seiler würde ihn eventuell vermissen. Aber eine Großfahndung würde sie wohl kaum nach ihm einleiten. Seit ihrem letzten Telefonat dachte sie wahrscheinlich sowieso, dass er nicht ganz dicht war.
Er überlegte, ob Fabian Plessen von dem hier wusste. War Sabine eine Komplizin von ihm, oder war Fabian das Opfer? Vielleicht lebte er schon gar nicht mehr. So oder so, David würde es wahrscheinlich nie erfahren. Bestimmt würde sie ihn hier einfach verrecken lassen. Langsam dämmerte er wieder weg. Vor seinem inneren Auge tauchte Danae auf, die ihn anlächelte und sagte Lass mich doch endlich in Ruhe, aber dabei so verführerisch aussah, dass David genau dazu nicht in der Lage war, und plötzlich lag sie in seinen Armen, wie schon so oft in seinen Träumen, warm und duftend, und es war wieder so herrlich, ihren Körper so dicht an seinem zu spüren, und dann flüsterte ihm jemand etwas ins Ohr, es waren aber keine Liebesworte, sondern eine Frage.
Ist es nicht ganz bequem, von einer verbotenen Liebe zu träumen?
David zuckte heftig zusammen, und sein Körper wand sich prompt vor Schmerz. Jeder Quadratzentimeter seiner Haut schien nass zu sein, salzig riechender Schweiß lief ihm in Bächen herunter, brannte in den Augen, durchfeuchtete seine Kleider: ein Anfall, der ihn zitternd und frierend zurückließ. Er war jetzt wieder vollkommen wach und erkannte, dass er hohes Fieber hatte. Heftiger Durst gesellte sich dazu: Wenn ihn nicht bald jemand befreite, würde er sterben. Ganz allein in dieser muffig riechenden Dunkelheit. Eine Vorstellung, die so entsetzlich war, dass sie ihm einen Adrenalinstoß versetzte, der ihn für Sekunden in eine trügerische Munterkeit versetzte. Um diese Stimmung zu nutzen, übte er sich in Zweckoptimismus. KHK Seiler würde ihn nicht einfach so aufgeben, im Gegenteil. Wie jede andere fähige Polizistin wäre sie alarmiert von seinem plötzlichen Verschwinden und würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn aufzuspüren. Denn dass sein Untertauchen etwas mit ihrem Fall zu tun hatte, verstand sich ja wohl von selbst, wenn man seine fünf Sinne beisammen hatte. David merkte, dass er sich etwas besser fühlte, und machte angestrengt weiter mit seinem Positiv-Denken-Programm, denn alles war sinnvoller, als dieses deprimierende, halb bewusste Dahindämmern, dieses Treiben auf den Wellen auf und ab schwellender Übelkeit.
Also: Spätestens heute Nachmittag um vier, dann nämlich, wenn das
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