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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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er keine Stimme mehr hatte. Er probierte es noch ein paar Mal, dann gab er auf.
    Eine halbe Stunde verging, in der David jede einzelne Sekunde kommen, verharren und vorübergehen fühlte. Die Zeit materialisierte sich in seiner Fantasie zu einer zähen, undurchdringlichen Substanz, die sich mit provozierender Trägheit voranbewegte, aber in Wirklichkeit kaum von der Stelle kam. Nach dieser halben Stunde sehnte sich David mit zunehmender Nervosität nach Licht und Gesellschaft – jeder Art von Gesellschaft, und wenn sie seinen Tod bedeuten sollte. Jede Veränderung war ihm willkommen, solange sie diesen unerträglichen Stillstand beendete. Trotz der Schmerzen, die ihm das verursachte, wälzte er sich auf den Rücken und den Bauch und dann wieder auf den Rücken, um seinen Körper zu spüren, der ihm mehr und mehr abhanden zu kommen schien. Er dachte an Geschichten von Leuten in Dunkelhaft, die oft schon nach drei Tagen den Verstand verloren und ihren Schergen alles erzählten, was diese hören wollten.
    Die Würde des Menschen ist antastbar.
    O ja, David wusste nun, dass das stimmte. Sich in einem Zustand wie dem seinen zu befinden veränderte alles, auch die eigene Identität, auch das Gefühl für sich selbst. Es beschädigte wesentliche Eigenschaften wie Stolz und Mut, es veränderte den Charakter von Grund auf und vielleicht für immer. Seine Gedanken begannen, ein Eigenleben zu führen, Bilder durchfluteten ihn wie ein endloser Strom an Erinnerungen, gespeicherten Filmszenen und bloßen Hirngespinsten. Die dunklen Augen eines Jungen begannen ihn zu verfolgen. Sie gehörten einem jungen Albaner, den David vor ein paar Monaten verhaftet hatte. Er war einer von den kleinen Fischen, die sich die eingesessenen Dealer-Familien als Nachschub ins Land holten, wenn zu viele andere ins Netz der Ermittler gegangen waren.
    Seine Mutter war von den Serben vergewaltigt und umgebracht worden, sein Vater verschollen. Das hatte er David erzählt, und David hatte in seine Augen gesehen, und sie waren leer gewesen wie die eines Menschen, der sich von seinesgleichen nichts mehr erwartet und der auch nichts mehr zu geben hat . Die Würde des Menschen ist antastbar. Davids Gedanken verwirrten sich; er fiel in eine leichte Ohnmacht, aus der er Sekunden später wieder erwachte.
    Noch immer war es dunkel. Aber er hörte etwas. Das Tap-Tap von Schritten auf der Treppe vor der Tür. Er fuhr hoch. Nichts, was jetzt kam, konnte schlimmer sein als die letzte halbe Stunde. Jemand machte sich fluchend an der Tür zu schaffen. Schließlich schwang sie auf, Licht fiel von draußen herein, und dann ging auch die Birne an der Decke an. David sah Sabine hereinkommen, die etwas trug. Es war ein kleiner Fernseher mit integriertem Videoteil. Sie stellte das Gerät keuchend vor Davids Füße und suchte einen Anschluss für das Kabel. Schließlich fand sie einen und schloss das Gerät an. Sie trug diesselbe Jeans und dasselbe verschwitzte rote T-Shirt wie eben und war nicht mehr maskiert. Ihr Gesicht sah, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser und verkniffener aus als vorhin. Der Ausdruck war seltsam, beinahe krankhaft.
    »Er will, dass du das siehst«, sagte sie trocken.
    »Wieso? Was?«, flüsterte David, denn mehr Volumen gab seine malträtierte Stimme nicht her. Er spürte, wie das Fieber stieg und ihm wieder der Schweiß ausbrach. Er begann zu zittern, obwohl es hier unten warm war.
    »Guck halt hin!« Sie schaltete den Fernseher ein und drückte auf die Fernbedienung. Kurzes weißes Rauschen. Dann sah David eine Gestalt vor einem Fenster sitzen in einem Zimmer, das er nicht kannte. Die Kamera zoomte näher heran. Sonnenlicht fiel in das Zimmer, und im hellen Gegenlicht war das Gesicht der Gestalt nicht zu erkennen. Aber David wusste trotzdem sofort, wer es war. Auch wenn er es nicht glauben konnte, nicht glauben wollte.

22
    Freitag, 25. 7., 14.03 Uhr
    Die Klinik, in der die Ärzte um Plessens Leben kämpften, hatte einen kleinen, sonnenbeschienenen Garten, obwohl sie mitten in der Stadt war. Mona legte sich auf eine der Bänke im Schatten einer Kastanie und schlief sofort ein. Sie träumte von Plessen, seinem sanften Gesicht, seiner leisen Stimme, seiner stahlharten Autorität. In ihrem Traum saß sie vor ihm und tauchte in seinen hypnotischen Blick ein.
    Du bist nicht wie deine Mutter und wirst es auch nie sein, sagte er zu ihr, denn er konnte Gedanken lesen und wusste, dass das ihre größte Angst gewesen war: wahnsinnig zu werden wie

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