Damenschneider
davongefahren. Ich weiß nicht, was meine Familie ihm angetan hätte. Und dann haben die mich so unter Druck gesetzt, dass ich halt gesagt habe, dass der Herbert mich vergewaltigt hat …«
Ruhig, ja fast zärtlich, schaute Walz das verzweifelte Mädchen an.
»Und dann hat Ihr Bruder den Herrn Kern angerufen und ihm gedroht, ihn umzubringen … Das ist in der Tat eine ziemlich verfahrene Situation. Also, zuerst sollten Sie die Anschuldigung, die Sie gegen Ihren Freund vorgebracht haben, zurücknehmen. Nur, wie Sie dies Ihren Brüdern erklären, dazu kann ich Ihnen leider nichts raten …«
Flehentlich schaute Ayse den Inspektor an.
»Ja, aber was soll ich denn jetzt tun?«, flüsterte sie.
Es wäre völlig untypisch für Walz gewesen, wenn ihm das Häuflein Elend, das vor ihm saß, nicht leid getan hätte.
»Na ja, wenn Sie glauben, dass das hilft, kann ich ja einmal mit den beiden reden …«, sagte er väterlich.
Dankbar schaute Ayse zu ihm auf.
»Ob es etwas nützt, kann ich natürlich nicht versprechen … aber ich werde mein Bestes versuchen …«
Mit diesen Worten ging er zur Tür, um die beiden in sein Büro zu bitten, dessen Kapazität durch die Anwesenheit von nunmehr vier Personen an seiner Grenze angelangt war.
»Ich bin der Meinung, dass wir einmal miteinander reden sollten«, sagte Walz freundlich zu den Burschen, die den Eindruck erweckten, als wäre ihnen dieses Szenario gar nicht geheuer.
»Was wollen Sie noch mit uns reden? Der Kerl hat unsere Schwester vergewaltigt und damit unsere Familie entehrt. Und jetzt wollt ihr diesen Typen auch noch beschützen. Sind wir Türken vielleicht weniger wert als ein Österreicher? Wenn so was mit einer Inländerin passiert, dann wird der Kerl doch gleich verhaftet und wandert in den Häfen. Aber ihr … ihr wollt nur mit uns reden und uns vielleicht auch noch erklären, dass es doch nicht so schlimm ist. Wir wollen aber nicht reden, wir wollen nur, dass der Typ seine Strafe bekommt … Und wenn ihr nichts unternehmen wollt, dann werdet ihr blöd schauen, wenn wir …«, hier brach der Ältere der beiden plötzlich ab, sich anscheinend erinnernd, in welcher Umgebung er sich eigentlich befand.
»Was würden Sie denn dann tun, Herr Öner?«, fragte Walz ruhig.
Feindselig schaute er den Inspektor an.
»Mir ist klar, dass das, was vorgefallen ist, in Ihrer Kultur nicht üblich ist«, fuhr Walz ruhig fort, »jedoch sollten Sie nicht vergessen, dass dieser junge Mann sich, da in diesem Falle definitiv keine Vergewaltigung vorliegt, so verhalten hat wie es in unserer Kultur üblich ist.«
»Was heißt hier ›keine Vergewaltigung‹? Nur weil sie eine Türkin und keine Österreicherin ist?«, unterbrach ihn der ältere Bruder heftig, während er seiner Schwester einen triumphierenden Blick zuwarf.
»Auch bei österreichischen Mädchen verhält es sich so, dass der Tatbestand der Vergewaltigung erst in dem Moment erfüllt ist, wenn der Täter gegen den Willen des Opfers in dieses eingedrungen ist. Doch das war bei Ihrer Schwester nicht der Fall. Wie sie mir vorhin selbst gestand, ist er gar nicht in sie eingedrungen. Mit anderen Worten: Sie haben Ihre Schwester so sehr unter Druck gesetzt, dass sie den einzigen Ausweg darin sah, Ihnen die Unwahrheit zu sagen«, antwortete Walz scharf. »Sie sollten sich vielleicht einmal überlegen, wie groß ihre Verzweiflung gewesen sein muss, dass sie Zuflucht zu einer solchen Lüge nahm und damit ihren geliebten Freund schwer belastete …«
»Sie glauben also diesem Kerl mehr als meiner Schwester?«, brauste der Türke auf.
»Nein, wirklich nicht«, antwortete Walz, der kurz um seine Contenance rang. »Um den Sachverhalt zu klären, könnten wir sie natürlich auch dem Amtsarzt vorführen, der zweifelsfrei beurteilen könnte, ob eine Vergewaltigung vorliegt. Und da Ihre Schwester ja eingeräumt hat, dass dies nicht der Fall ist, sollten wir ihr diese unwürdige Prozedur doch ersparen.«
»Also, er hat dich nicht vergewaltigt?«, bellte der ältere Öner in einem Ton, der nichts Gutes verhieß, um sofort danach ins Türkische zu verfallen.
Nun mischte sich auch der jüngere Bruder Ayses ins Gespräch ein, mit der Folge, dass die Unterhaltung in Kürze einen Lautstärkepegel annahm, dass Walz sich mit einem Mal nicht nur der Sprache wegen nach Kleinasien versetzt fühlte.
Bevor er jedoch noch eingreifen konnte, erschien plötzlich Vogel in der Türe, der eigentlich nur vorsichtig in sein Büro schauen wollte, um zu
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