Damenschneider
Worte, es war ein rein nachbarschaftliches Verhältnis, also etwas völlig Normales. Dennoch schien ihm, als grüße sie ihn immer besonders herzlich und als zöge sie das Gespräch mit ihm ganz bewusst in die Länge, während sie ihm forschend in die Augen schaute. Sie kam aus der Gegend von Leipzig, war alleinstehend, so viel wusste er immerhin, und arbeitete als Schneiderin in einem namhaften Geschäft für Herrenanzüge. Richter war übrigens nach Wien gekommen, weil sich in Deutschland kein Mensch mehr Maßanzüge machen ließ. Diejenigen, die sich das leisten konnten, flogen lieber gleich nach London oder eben nach Wien, wo das Handwerk wirklich ›noch goldenen Boden‹ hat, wie sie es Necker gegenüber ausgedrückt hatte. Viel mehr Worte waren zwischen den beiden eigentlich nicht gewechselt worden, als sie ihn nach seinem Beruf fragte, hatte er ihr lediglich gesagt, er sei Arzt. Glücklicherweise hatte sie nicht nachgefragt, welche Art von Mediziner er sei. Das hätte sie möglicherweise verschreckt.
Nur, was sollte er ihr sagen, wenn er tatsächlich eine Eins würfelte?
Sollte er es gar so anstellen, wie Luke Rhinehart in seinem Buch »Der Würfler«, das Necker überhaupt erst zu seinen Würfelspielen inspiriert hatte?
Der hatte nach einem Pokerabend mit Freunden beschlossen, dass er mit seiner Nachbarin schlafen würde, wenn der Würfel, der unter der Pik Dame verborgen war, eine Eins zeige. Und so war es gewesen. So ging Rhinehart mitten in der Nacht zu seiner Nachbarin, die darüber hinaus noch die Frau eines Kollegen war, und teilte ihr unumwunden zu, dass er Sex mit ihr haben wolle. Sie stimmte überrascht, aber erfreut zu.
So einfach ging es leider nur in Büchern, davon war Necker fest überzeugt.
Vera würde sicherlich sofort die Polizei rufen, oder ihn gar auslachen, was wohl noch schlimmer wäre.
Allerdings müsste er ja nicht gleich so dreist vorgehen wie sein Vorbild. Das würde ja auch gar nicht seiner Veranlagung entsprechen. Er könnte sie ja nur in die Oper einladen und danach mit ihr essen gehen, das wäre doch ganz unverfänglich.
Trotzdem.
Immerhin gab es noch den Ausweg, dass sie nicht zu Hause war, wenn er anklopfte.
Seine Pflicht hätte er trotzdem erfüllt.
Nach diesen bedeutungsschweren Gedankengängen öffnete er seine Hände und ließ den Würfel darüber entscheiden, wie er nun seinen freien Abend gestalten sollte.
Nachdem der Kubus nach einigen Spiralen und Wendungen zur Ruhe gekommen war, hielt er seine Augen fest geschlossen.
Der Grund für seinen komplexbeladenen Charakter lag in Neckers Kindheit begründet.
Sein Lebensschicksal sollte ihn eigentlich schon kurz nach seiner Geburt, genau genommen eigentlich am Tage seiner Taufe, ereilen.
Denn schon von klein auf war er, gleichsam als Opfer des typisch wienerischen Hangs zu Koseformen, der »Nekro« gewesen. Freilich nicht für seine Familie, die sich strikt und geschichtsbewusst an den gegebenen Vornamen hielt, der jedem Erstgeborenen der Familie zuteil geworden war, schon sein Ururgroßvater war einst mit diesem wenig schmückenden Taufnamen gesegnet gewesen. Es war die Kindergärtnerin, die erste weibliche außerfamiliäre Bezugsperson also, die sich angesichts der drolligen Erscheinung des damals noch mit pechschwarzem Haar gesegneten Kindes diese Verzärtlichung einfallen ließ, und somit den Grundstein zu seiner späteren Berufswahl legte. Denn ist es nicht in den meisten Fällen so, dass der Name den Charakter des Menschen geradezu schicksalhaft prägt? Oder wer von uns ist schon einmal etwa einer »Friederike« begegnet, die sich der weiblichen Attribute der Anmut oder Zärtlichkeit rühmen konnte? In der Regel sind Trägerinnen dieses Namens doch etwas spröde, aber durchaus strebsame Naturen, die mit ernster Miene und unerbittlicher Strenge selbstgerecht ihren auf Ordnung bedachten Lebensweg durchmessen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich das Umfeld konsequent an den gewählten Vornamen hält. Wird nämlich aus der ernsten Friederike in ihren frühen Lebensjahren eine »Fritzi« oder »Riki«, kann sie sich dann ungeachtet der ungünstigen Auspizien tatsächlich noch zu einem süßen Mädel entwickeln.
Bei dem kleinen Erwin lagen die Dinge freilich ganz anders.
Hätte diese etwas leichtsinnige Kindergärtnerin den Knaben etwa »Winnie« genannt, wäre sein Leben womöglich ganz anders verlaufen, und er hätte sich wahrscheinlich zu einem charmanten und eloquenten Jüngling entwickelt,
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