Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
selber habe das so oft gemacht im Leben …«
Tränen traten ihm in die Augen.
»… und habe bestimmt noch nicht genügend gebüßt dafür.«
Das verstehe ich nicht, sagte ich. Wenn Sie ohnehin glauben, dass Sie dafür bestraft werden …
»… warum sollte ich dann noch Gott dienen?« Henry lächelte matt. »Was sollte ich denn stattdessen tun? Das ist wie in der Bibelgeschichte, als die Jünger sich von Jesus abwandten und er die Apostel fragte: ›Wollt ihr auch weggehen?‹ Und Petrus sagte: ›Herr, wohin sollen wir gehen?‹«
Ich wusste, was er meinte. Wo soll man hingehen, wenn Gott allgegenwärtig ist?
Aber, Henry, Sie tun so viel Gutes hier –
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Den Platz im Himmel kann man sich nicht erarbeiten. Wenn man sich durch Arbeit beliebt machen will, disqualifiziert man sich selbst. Mit dem, was ich hier tue, jeden Tag bis zum Ende meines Lebens, versuche ich lediglich zu sagen: ›Herr, ungeachtet dessen, was mich im Jenseits erwartet, möchte ich dir auch etwas geben. Ich weiß, dass ich damit nichts wettmachen kann. Aber ich möchte meinem Leben einen Sinn geben, bevor ich gehen muss …«
Er atmete langsam aus.
»Und dann, Herr, bin ich ein Gast bei dir, ein Fremdling wie all meine Väter.«
Es war kalt und schon spät am Abend, und nach diesem Gespräch schien Henrys Vergangenheit schwer auf uns zu lasten. Wir versanken ein paar Minuten in Schweigen. Dann stand ich auf, wünschte Henry alles Gute und trat hinaus in den Schnee.
Früher meinte ich, alles zu wissen. In meiner Selbstwahrnehmung war ich »intelligent« und »schaffte alles«. Und je erhabener ich mich selbst fand, desto mehr blickte ich auf alles herunter, was ich als zu simpel empfand – sogar auf die Religion.
Doch als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, wurde mir etwas bewusst: dass ich weder besser noch klüger war als andere Menschen, sondern lediglich mehr Glück gehabt hatte. Und dass ich damit aufhören musste, mich für allwissend zu halten, denn man kann durchaus alles über die Welt wissen und sich dennoch darin verloren fühlen. Viele Menschen, die Leid empfinden, weinen und klagen. Doch sie blicken auf nichts herunter, sondern schauen nach oben. Und genau das hätte ich auch tun sollen. Denn wenn es still wird in der Welt und man nur noch seinen eigenen Atem hört, wollen wir alle dasselbe: Trost, Liebe und Frieden im Herzen.
Henry Covington hatte vielleicht in der ersten Hälfte seines Lebens mehr Böses und in der zweiten mehr Gutes als andere getan. Doch an diesem Abend beschloss ich, nie wieder zu erwägen, ob Henrys Vergangenheit seine Gegenwart überschattete. In der heiligen Schrift steht: Richte nicht. Aber Gott hatte das Recht dazu, und damit musste Henry tagtäglich leben. Das war schlimm genug.
JANUAR
Himmel
D er Januar begann und mit ihm ein neues Jahr, 2008. Noch bevor dieses Jahr endete, würden die USA einen neuen Präsidenten haben. Und von einer Wirtschaftskrise schlimmsten Ausmaßes erschüttert werden, die viele Millionen Menschen Heim und Arbeitsplatz kostete und sie jeglichen Vertrauens in die Zukunft beraubte.
Unterdessen streifte der Rebbe, in Gedanken versunken, durch sein Haus. Er hatte die Große Depression und zwei Weltkriege überlebt und ließ sich von Schlagzeilen nicht mehr verstören. Er hielt sich die Außenwelt vom Hals, indem er in enger Verbindung mit seiner Innenwelt blieb. Er betete und unterhielt sich mit Gott. Er betrachtete die Schneeflocken vor dem Fenster. Und er genoss die simplen Rituale seines Tages: die Gebete, seinen Haferbrei, die Enkelkinder, die Autofahrten mit Teela, die Anrufe bei einstigen Gemeindemitgliedern.
An einem Sonntagvormittag besuchte ich ihn wieder. Meine Eltern wollten mich später abholen und mit mir zu Mittag essen, bevor ich nach Detroit zurückflog.
Zwei Wochen zuvor hatte es im Gemeindehaus ein Treffen zu Ehren des Rebbe gegeben, bei dem man seiner sechs Jahrzehnte umspannenden Arbeit gedachte. Es war wie ein Willkommensfest gewesen.
»Ich sage Ihnen«, erzählte der Rebbe und schüttelte ungläubig den Kopf, »da kamen Leute, die hatten sich jahrelang nicht gesehen. Und als ich sah, wie die sich um den Hals fielen und sich küssten wie verloren geglaubte Freunde – da habe ich geweint. Geweint . Als ich sah, was wir gemeinsam geschaffen haben. Es ist etwas ganz Unglaubliches.«
Unglaublich? Mein altes Gemeindehaus? Diese kleine Stätte, wo wir den Schabbat und andere Feiertage begingen und wo Kinder auf
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