Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Versuche, neue Mitglieder zu werben. Diese Gemeinde entstand auf die althergebrachte Art und Weise: aus der Not und der Suche nach Gottes Beistand.
Doch damit war Henry nicht mit seinen unbezahlten Rechnungen und der abgestellten Heizung geholfen. Er musste die Gottesdienste weiterhin in dem Plastikzelt abhalten. Die Obdachlosen schliefen weiterhin in ihren Mänteln, und die Heizlüfter brummten die ganze Nacht hindurch. Der Winter schien hart zu werden, denn es gab bereits jetzt heftige Schneefälle.
Obwohl ich mich bei meiner journalistischen Arbeit für gewöhnlich vom Thema Religion fernhielt, hatte ich das Gefühl, der Leserschaft der Detroit Free Press diese Zustände schildern zu müssen. Ich interviewte einige der Obdachlosen, darunter einen Mann, der früher ein hervorragender Baseballspieler gewesen war, bis er alle zehn Zehen verloren hatte, weil er im Winter in einem Autowrack schlafen musste.
Ich sammelte all diese Geschichten, aber etwas ließ mir immer noch keine Ruhe.
Und deshalb besuchte ich Henry eines Abends zuhause. Es war kurz vor Weihnachten. Sein Haus lag nur wenige Straßen von der Kirche entfernt. Sechzehn Jahre zuvor, als Henry nach Detroit kam, hatte er ein Hypothekendarlehen in Höhe von dreißigtausend Dollar für das Haus aufgenommen – was es inzwischen vermutlich nicht mehr wert war.
Die Fassade war ziemlich verwittert, eine Hälfte des Gartentors hing schief in den Angeln, und das unbebaute Grundstück, auf dem er das Essen an die Bedürftigen verteilt hatte, war mit Schnee bedeckt. Der Schuppen, in dem sie das Essen gelagert hatten, war noch da, mit einem Netz bedeckt, um Tiere fernzuhalten.
Henry saß auf einer kleinen Couch im Wohnzimmer – wo Cass ein Jahr lang geschlafen hatte. Der Pastor war schwer erkältet und hustete immer wieder. Das Haus war sauber und ordentlich, machte aber einen ärmlichen Eindruck. Die Farbe blätterte von den Wänden, und die Decke der Küche war zum Teil heruntergebrochen.
Der Pastor wirkte stiller und nachdenklicher als sonst. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Feiertagen. An den Wänden hingen Fotos von seinen Kindern, doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie dieses Jahr nicht viele Weihnachtsgeschenke bekommen würden.
Als Henry noch mit Drogen handelte, hätten seine Kunden ihm im Austausch einen Fernseher gebracht. Schmuck? Designerklamotten? Er hätte für all das nicht mal das Haus verlassen müssen.
Ich fragte ihn, ob er, als er seine Gemeinde übernahm, geglaubt habe, dass es ihm einmal finanziell besser gehen würde.
»Nein«, antwortete er. »Ich denke, es ist mir bestimmt, bei den Armen zu arbeiten.«
Dafür müssen Sie aber doch nicht genauso leben wie die Armen, erwiderte ich etwas flapsig.
Er blickte um sich. Dann holte er tief Luft.
»Ich bin da, wo ich sein soll.«
Wie meinen Sie das?
Er senkte den Blick.
Und dann sagte er etwas, das ich niemals vergessen werde.
»Mitch, ich bin ein schlimmer Mensch. Was ich in meinem Leben getan habe, kann nie mehr ungeschehen gemacht werden. Ich habe gegen jedes der Zehn Gebote verstoßen.«
Im Ernst? Aber doch bestimmt nicht gegen jedes.
»Doch, als ich noch jünger war.«
Stehlen? Falsch aussagen gegen den Nächsten? Des Nächsten Haus begehren?
»Ja.«
Ehebruch?
»Mhm.«
Mord?
»Ich habe nie selbst den Abzug gedrückt, aber ich war daran beteiligt. Ich hätte etwas unternehmen können, bevor ein Menschenleben vernichtet wurde. Doch ich habe es nicht getan. Mord gehört also auch dazu.«
Er wandte den Blick ab.
»Es war ein mörderisches Gewerbe, in dem die Stärksten sich an den Schwächsten vergriffen. In dem Leben, das ich damals führte, wurden Menschen umgebracht, Tag für Tag.
Ich verabscheue mich, wie ich damals war. Ich habe zwar für ein Verbrechen im Gefängnis gesessen, das ich nicht begangen hatte, aber ich habe Dinge getan, für die ich auch hätte einsitzen sollen. Ich war feige, und ich war hart. So bin ich vielleicht heute nicht mehr, aber damals war ich es.«
Er seufzte. »Damals war ich es«, sagte er noch einmal.
Er blickte unter sich. Sein Atem ging schwer.
»Ich habe es verdient, in der Hölle zu landen«, flüsterte er. »Bei allem, was ich getan habe, hätte Gott recht damit. Gott lässt sich nicht täuschen. Man erntet, was man gesät hat.
Deshalb sage ich den Leuten aus meiner Gemeinde, sie sollen mich nicht auf ein Podest stellen. Ich predige darüber, dass man anderen nicht antun soll, was man selbst nicht haben will, aber ich
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