Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
den Fluren umherrannten? Unglaublich? Das Wort schien mir zu hoch gegriffen. Doch als der Rebbe die Hände aneinanderlegte, als wolle er beten, und flüsterte: »Verstehen Sie, Mitch? Wir haben eine Gemeinde geschaffen«, betrachtete ich sein altes Gesicht und seinen geschwächten Körper, und mir wurde bewusst, dass er sechzig Jahre lang unermüdlich gelehrt, zugehört und sich bemüht hatte, bessere Menschen aus uns zu machen. Und angesichts des Zustandes der Welt war »unglaublich« vielleicht doch der richtige Ausdruck für dieses großartige Werk.
»Wie sie sich umarmt haben«, sagte der Rebbe, in Erinnerungen versunken, »das war ein Stück Himmel für mich.«
Es war unvermeidlich, dass der Rebbe und ich irgendwann über das Jenseits sprechen würden. Wie man es auch nennt – Paradies, Moksha, Walhall, Nirwana –, ist dieser Ort jedenfalls das Fundament beinahe jedes Glaubens. Und als seine irdische Zeit sich dem Ende entgegenneigte, sann der Rebbe mehr und mehr darüber nach, was ihn wohl erwartete an jenem Ort, den er » Olam HaBah « nannte – die kommende Welt. Ich merkte an seiner Stimme und seiner Haltung, dass er nun danach suchte – wie man den Kopf reckt, um über einen Hügel blicken zu können.
Die Grabstätte des Rebbe, erfuhr ich, lag bei New York, seinem Geburtsort. Seine Eltern und auch seine Tochter Rinah lagen dort begraben. Wenn es so weit war, würden die drei Generationen dort zumindest in der Erde und – wenn man daran glaubte – auch an einem anderen Ort vereint sein.
Glauben Sie, dass Sie Rinah wiedersehen werden?, fragte ich.
»Ja, das glaube ich.«
Aber sie war damals noch ein kleines Kind.
»Da oben«, flüsterte er, »spielt Zeit keine Rolle.«
In einer Predigt erzählte der Rebbe einmal die Geschichte von einem Mann, dem man Himmel und Hölle zeigte. In der Hölle saßen die Menschen an einer Tafel, die reich mit Fleisch und Köstlichkeiten gedeckt war. Doch diese Menschen mussten die Arme für immer und ewig starr vor sich ausstrecken.
»Das ist grauenhaft«, sagte der Mann. »Zeigt mir den Himmel.«
Er wurde in einen anderen Raum geführt, der sich kaum vom ersten unterschied. Auch dort stand eine reich gedeckte Tafel, und die Menschen streckten starr die Arme aus.
Doch hier fütterten sie sich gegenseitig.
Glauben Sie wirklich, dass der Himmel so aussieht?, fragte ich den Rebbe.
»Woher soll ich das denn wissen? Ich glaube, dass dort irgendwas ist. Das genügt mir.«
Er strich sich mit dem Finger übers Kinn. »Aber ich muss zugeben, dass ich die Vorstellung vom Sterben in gewisser Weise spannend finde. Denn bald werde ich eine Antwort auf diese Frage bekommen.«
Sagen Sie so was nicht.
»Was?«
Dass Sie bald sterben werden.
»Warum? Macht Ihnen das etwas aus?«
Na ja, ich meine – niemand hört dieses Wort gerne.
Ich klang wie ein kleines Kind.
»Hören Sie, Mitch …« Der Rebbe senkte die Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust. Er trug einen Pullover über einem karierten Hemd, das wieder einmal überhaupt nicht zu seiner blauen Hose passte. »Ich weiß, dass es für manche Menschen schwer sein wird, wenn ich sterbe. Ich weiß, dass meine Familie, meine Lieben – und ich hoffe auch Sie – mich vermissen werden.«
Ich würde ihn vermissen. Und zwar mehr, als ich ihm sagen konnte.
»Himmlischer Vater, bitte hör mich an«, sprach der Rebbe nun im Singsang, »ich bin ein glücklicher Mann. Ich konnte hier auf Erden dabei behilflich sein, vieles zur Reifung zu bringen. Vielleicht habe ich sogar Mitch hier ein wenig dabei helfen können …«
Er wies mit dem Zeigefinger auf mich.
»Aber Mitch, verstehst du, Ewiger, stellt immer noch Fragen. Deshalb bitte ich dich, ihm noch viele Jahre auf Erden zu gewähren. Dann haben wir nämlich viel zu reden, wenn er schließlich zu mir kommt und wir wieder zusammen sind.«
Der Rebbe lächelte verschmitzt.
»Und?«
Vielen Dank, sagte ich.
»Gern geschehen«, erwiderte er.
Er blinzelte.
Glauben Sie wirklich daran, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden?
»Sie nicht?«
Na ja, sagte ich verlegen, ich glaube nicht, dass ich auf derselben Ebene landen werde wie Sie.
»Wieso glauben Sie das, Mitch?«
Weil Sie ein Mann Gottes sind.
Er sah mich dankbar an.
»Auch Sie sind ein Mensch Gottes«, flüsterte er. »Alle Menschen sind das.«
Es klingelte an der Haustür, und ich hörte meine Eltern mit Sarah sprechen. Ich sammelte meine Sachen ein und berichtete dem Rebbe, dass in ein paar Wochen
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