Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
unsere Weisen, man soll einen Tag vor seinem Tod Buße tun.«
Aber woher soll man wissen, wann man stirbt?, fragte ich.
Der Rebbe zog die Augenbrauen hoch.
»Darum geht es ja gerade.«
Und ich will euch ein neues Herz und einen
neuen Geist in euch geben und will das
steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen
und euch ein fleischernes Herz geben.
DER PROPHET HESEKIEL 36, 26–27
Der Moment der Wahrheit
I n der Woche vor Weihnachten schien es in diesem Jahr in Detroit mehr »Zu verkaufen«-Schilder an Häusern als bunte Lichter zu geben. Der Umsatz in den Geschäften war schlecht, und viele Kinder bekamen zu hören, dass sie nicht viel vom Weihnachtsmann erwarten sollten. Die große Wirtschaftskrise machte sich nachhaltig bemerkbar, und alle spürten es; man sah es an den Gesichtern.
Pastor Henrys Kirche an der Trumbull Avenue stand im Dunkeln, denn Außenbeleuchtung konnte man sich nicht leisten. Erst wenn man die Tür öffnete, merkte man, dass sich jemand in der Kirche aufhielt. Und auch der Innenraum war nicht beleuchtet; es war dort derartig schummrig, als sei die Beleuchtung ebenso alt wie die Wände.
An diesem Abend mit Cass hatte ich gelernt, dass es noch einen anderen Weg gab, um Henry zu begreifen: Ich musste mit den Mitgliedern seiner Gemeinde sprechen.
Ein Typ namens Dan zum Beispiel, einer der wenigen Weißen der Gemeinde, hatte mir erzählt, dass er früher Trinker und obdachlos gewesen sei und nachts auf einem Handballplatz auf der Belle Isle im Detroit River geschlafen habe. Er trank einen dreiviertel Liter Schnaps und bis zu zwölf Bier am Tag, schlief dann ein, wachte auf und fing wieder von vorne an. An einem kalten Abend kam er zur Kirche, aber sie war geschlossen. Henry, der in seinem Wagen gesessen hatte, sah Dan weggehen, rief ihn zu sich und fragte ihn, ob er eine Unterkunft brauche.
»Dabei kannte er mich überhaupt nicht«, sagte Dan. »Ich hätte auch Jack the Ripper sein können.« Und dann gelang es Dan, vom Alkohol wegzukommen, indem er dreißig Tage am Stück in der Kirche blieb.
Ein anderes Gemeindemitglied, eine kleine muntere Frau namens Shirley, erinnerte sich daran, dass manchmal am Freitag oder Samstag zwanzig bis dreißig Kinder in Henrys kleinem Haus übernachteten. Henry nannte die Gruppe die »Friedensgang«. Er brachte den Kindern Kochen bei und spielte mit ihnen, aber vor allem gab er ihnen das Gefühl, geborgen zu sein. Henry war für Shirley ein so wichtiges Vorbild, dass auch sie Kirchenälteste wurde.
Ein Mann namens Freddie zeigte mir sein Zimmer im dritten Stock der Kirche, wo er in einem richtigen Bett schlief. Henry habe ihm das Zimmer angeboten, als er noch draußen auf der Straße schlafen musste, erzählte er. Eine Frau namens Luanne berichtete mir, dass Henry niemals Geld für eine Beerdigung oder eine Hochzeit verlangte. »Der Herr wird es uns vergelten«, sagte er dann immer.
Und dann war da Marlene, eine attraktive Frau mit traurigen mandelförmigen Augen. Sie erzählte mir eine brutale Geschichte von Drogensucht und Gewalt, die in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Mann endete, der mit ihr zusammenlebte: Er zerrte sie und ihren zweijährigen Sohn aus dem Bett, schlug sie und stieß beide die Treppe hinunter. Aus dem Bodenbrett, auf dem sie landeten, ragten Nägel heraus, und der Junge riss sich daran die Stirn auf. Der Mann weigerte sich, die beiden ins Krankenhaus gehen zu lassen, und hielt sie trotz ihrer Verletzungen zwei Tage lang gefangen.
Als er dann endlich das Haus verließ, nahm Marlene ihren Sohn und flüchtete mit ihm. Alles, was sie hatten, waren die Kleider, die sie am Leib trugen. Der Officer auf dem Polizeirevier rief Henry an, der am Telefon mit Marlene sprach. Er klang so fürsorglich und beruhigend, dass sie die Polizisten bat, sie zu seiner Kirche zu bringen, obwohl sie Henry noch nie gesehen hatte. Er gab ihr und ihrem Jungen ein warmes Essen und einen Platz zum Schlafen – und seither gehörte sie zur Gemeinde und kam regelmäßig zu Henrys Gottesdiensten.
Ich dachte darüber nach, wie Kirchen und Synagogen für gewöhnlich ihre Gemeinde aufbauen. Einige betreiben Schulen, andere machen öffentliche Veranstaltungen, darunter Abende für Singles, Lesungen und Feste, oder fahren durch die Gegend, um neue Gemeindemitglieder zu werben. Denn jährliche Beitragszahlungen sind notwendig zur Erhaltung.
Bei der Kirchengemeinde I Am My Brother’s Keeper gab es keine Beitragszahlungen, keine Single-Abende und keine
Weitere Kostenlose Bücher