Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
wunderbarer Teil von Gottes Schöpfung, und seinen Verfall mitzuerleben, war sehr schmerzhaft für mich.
In seinem Büro half ich ihm dabei, Kisten zu verschieben. Er versuchte mir Bücher zu schenken und sagte, es bräche ihm das Herz, die zurücklassen zu müssen. Ich sah ihm zu, wie er mit seinem Stuhl von einem Stapel zum nächsten rollte, in seinen Erinnerungen versank, die Sachen dann weglegte und sich den nächsten Stapel ansah.
Wenn man für den Himmel packen müsste, würde man sich so verhalten: alles berühren und nichts mitnehmen.
Gibt es jemanden, dem Sie an diesem Punkt verzeihen wollen?, fragte ich den Rebbe.
»Ich habe ihnen schon verziehen«, antwortete er.
Allen?
»Ja.«
Haben die Ihnen auch verziehen?
»Ich hoffe es. Ich habe darum gebeten.«
Er schaute zur Seite.
»Wir haben diese Tradition: Bei einer Beerdigung soll man an den Sarg treten und den Verstorbenen bitten, alles zu verzeihen, was man nicht gut gemacht hat.«
Er verzog das Gesicht.
»Ich persönlich möchte aber nicht so lange warten.«
Ich erinnere mich an die letzte öffentliche Entschuldigung des Rebbe. Er hielt damals, an den hohen Feiertagen, seine letzte Predigt als leitender Rabbiner der Gemeinde.
Er hätte diese Gelegenheit dazu nutzen können, seine Leistungen noch einmal hervorzuheben. Stattdessen bat er seine Schäfchen um Verzeihung. Er bat um Verzeihung, weil er nicht genügend Ehen hatte retten können, weil er die ans Haus Gebundenen nicht öfter besucht hatte, weil er Eltern, die ein Kind verloren hatten, nicht intensiver hatte betreuen können, weil er nicht genügend Geld zur Verfügung gehabt hatte, um Witwen oder wirtschaftlich bedrohten Familien zu helfen. Er entschuldigte sich bei Heranwachsenden dafür, dass er nicht mehr Zeit für ihre Lehre hatte aufwenden können. Er entschuldigte sich, weil er nicht öfter Leute am Arbeitsplatz aufgesucht hatte, um sich beim Lunch mit ihnen zu unterhalten. Er entschuldigte sich für die Sünde, sich nicht jeden Tag seinen Studien gewidmet zu haben, da Krankheiten und Verpflichtungen ihn kostbarer Stunden beraubt hatten.
»All diese Sünden, Gott des Vergebens«, schloss er, »vergib mir, verzeih mir …«
Offiziell war dies seine letzte »große« Predigt.
»… lass mich Versöhnung finden«, lauteten die letzten Worte.
Und nun hielt der Rebbe mich dazu an, nichts aufzuschieben.
»Es tut nicht gut, Mitch, wenn man jemandem zürnt.«
Er machte eine Faust. »Dann ist man innerlich ganz aufgewühlt. Damit schadet man mehr sich selbst als demjenigen, auf den man wütend ist.«
Man soll es also einfach vergessen?, fragte ich.
»Oder am besten soll man es erst gar nicht zu solchen Gefühlen kommen lassen«, erwiderte der Rebbe. »Wissen Sie, was ich im Laufe der Jahre herausgefunden habe? Wenn ich mit jemandem Streit gehabt hatte und die Leute zu mir kamen, um darüber zu reden, empfing ich sie immer mit den Worten: ›Ich habe darüber nachgedacht. Und in gewisser Weise haben Sie vielleicht auch recht.‹
Ich war keineswegs immer dieser Überzeugung. Aber es erleichterte das Gespräch. Die Leute entspannten sich sofort, und man konnte vernünftig verhandeln. Ich habe also eine brenzlige Situation … wie heißt das gleich wieder …«
Entschärft?
»Ja, genau, entschärft. Und das sollten wir alle tun. Vor allem innerhalb der Familie.
Wissen Sie, in unserer Tradition bitten wir jeden um Verzeihung, sogar entfernte Bekannte. Aber bei den Menschen, die uns am nächsten sind – Ehepartnern, Kindern, Eltern –, warten wir oft zu lange damit. Tun Sie das nicht, Mitch. Das ist so eine schlimme Verschwendung.«
Und er erzählte mir eine Geschichte. Ein Mann, dessen Frau gestorben war, stand tränenüberströmt neben dem Rebbe an ihrem Grab.
»Ich habe sie geliebt«, flüsterte der Mann.
Der Rebbe nickte.
»Ich meine … Ich habe sie wirklich geliebt.«
Der Mann weinte hemmungslos.
»Und … einmal hätte ich es ihr beinahe gesagt.«
Der Rebbe schaute mich traurig an.
»Nichts verfolgt uns so sehr wie das Unausgesprochene«, sagte er dann.
Später an diesem Tag bat ich den Rebbe um Verzeihung für alles, womit ich ihn womöglich verletzt haben könnte. Er lächelte und sagte, ihm käme zwar nichts dergleichen in den Sinn, aber er wolle »diesbezüglich alles in Betracht ziehen«.
Gut, das hätten wir dann also auch uns hinter gebracht, sagte ich scherzhaft.
»Sie sind im Reinen mit mir.«
Das Timing ist entscheidend.
»Ganz recht. Deshalb sagen
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