Damon Knight's Collection 10 (FO 19)
andernfalls hätte sie nichts gegessen. Erst wenn er sie berührte, merkte sie, daß er da war, um sie ins Haus zu holen. Hin und wieder stand er in der Tür und beobachtete sie, und in solchen Momenten erschreckte sie ihn. Sie war wie eine Fremde für ihn, schien manchmal mit geschlossenen Augen zu arbeiten. Nein, widersprach er sich, nicht manchmal, immer. Ihre Hände enthielten ein unabhängiges Leben, starke, schmale Hände, deren Knöchel weiß vortraten, wenn sie Hammer und Meißel umklammerte. Sie konnte bei der Arbeit keine Handschuhe haben. Sie trug eine schwere Wollhose und einen dicken Pullover und darüber einen sackähnlichen Poncho, den sie aus einer Armeedecke genäht hatte. Sie trug Stiefel, die mit Schaffell gefüttert waren, aber ihre Hände mußten frei sein. Er berührte meist ihren Arm, schüttelte sie, bis langsam Erkennen in ihre Augen trat; dann lächelte sie ihm zu und legte ihr Werkzeug weg, folgte ihm, ohne das Ding anzusehen, das sie schuf. Er rieb ihre erstarrten Finger, half ihr aus dem schweren Zeug, das viel zu warm für das Haus war.
Manchmal, wenn sie im Bett lag, gewöhnlich gegen neun, knipste er die Lichter am Stall an und betrachtete ihr Werk. In solchen Momenten hätte er es am liebsten umgeworfen und in tausend Stücke zertrümmert. Er haßte es, weil es sie ganz beherrschte, während er sie lieber verwöhnt hätte, die letzten Monate und Wochen …
Er schleuderte sein Glas in den Kamin, begann dann die Scherben aufzulesen und legte sie in einen Aschenbecher. Etwas Nasses glänzte auf seiner Hand, und er starrte es einen Moment lang an. Plötzlich preßte er den Kopf auf den Boden und schluchzte, um sie, um sich, um ihr Kind.
„Sayre, weshalb haben Sie sie nicht zur Untersuchung gebracht?“
Martie beobachtete Wymann, der rastlos im Wohnzimmer umherwanderte. Plötzlich fand er, daß Wymann abgehärmt wirkte. Er lachte. Alle außer Julia wirkten abgehärmt. Wymann sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Ich warne Sie, Sayre. Wenn das Kind bei der Geburt zur Waise wird, überläßt es uns der Staat ohne viel Federlesen. Mit oder ohne Ihre Einwilligung …“
Martie nickte. „Das habe ich bedacht.“ Er fuhr sich über das Gesicht. Ein vier bis fünf Tage alter Bart bedeckte Kinn und Wangen. Seine Hand zitterte. „Ich habe alles bedacht“, sagte er betont langsam. „Alles. Ich verliere, wenn ich Ihren Vorschlag annehme, ich verliere, wenn ich es nicht tue.“
„An unserer Seite verlieren Sie nicht. Eine Frau. Es gibt andere. Wäre sie bei der Entbindung gestorben, bei einem Unfall, so hätten Sie keine fünf Jahre gewartet, um ein zweites Mal zu heiraten.“
Martie nickte. „Auch das habe ich mir durch den Kopf gehen lassen. Die reine, ewige Liebe gibt es nicht. Weshalb sind Sie bis zu uns herausgekommen, Wymann? Ich dachte, Sie seien viel zu beschäftigt, als daß eine einzelne Patientin Sie ganz in Beschlag legen könnte. Ein verdammt langer Weg für einen Hausbesuch, der noch nicht einmal erwünscht ist.“ Er lachte wieder. „Sie haben Angst. Was geht schief?“
„Wo ist Julia?“
„Sie arbeitet. Draußen im Stall.“
„Habt ihr beide den Verstand verloren? Jetzt arbeiten? Sie kommt in spätestens zwei Wochen nieder.“
„Sie scheint es für wichtig zu halten. Etwas, das sie unbedingt vollenden will, bevor sie Mutter wird und ein, zwei Jahre Pause einlegen muß.“
Wymann musterte ihn scharf. „Diese Haltung nimmt sie ein?“
„Zuerst Ihre Antwort. Weshalb kommen Sie hierher? Was klappt nicht mit dem Meisterplan für den neuen Supermenschen?“
„Er ist hier, weil die Leute nicht mehr von selbst sterben. Habe ich recht, Dr. Wymann?“
Julia stand in Strümpfen an der Tür und schälte sich aus ihrem Poncho. „Sie müssen jetzt etwas unternehmen, Doktor, nicht wahr? Wirklich etwas unternehmen, nicht einfach zurücklehnen und abwarten.“
„Dann gibt es also tatsächlich eine Art Untergrund? Deshalb sind Sie beide so lange umhergereist – um die Bewegung zu organisieren!“
Julia lachte und zog den Pullover aus. „Ich mache uns allen Kaffee.“
Martie sah sie an. „Eine Endlösung, Doktor. Sie stehen vor einer neuen Endlösung, nicht wahr? Und Sie merken, daß sie schwierig ist.“
„Schwierig, ja. Aber nicht unmöglich.“
Martie lachte. „Entschuldigen Sie, ich muß mich rasieren. Machen Sie es sich bequem. Es dauert höchstens fünf Minuten.“
Er ging durch die Küche und umfing Julia von hinten, drückte sie an sich. „Sie
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