Damon Knights Collection 3
dachte, daß sie vielleicht hysterisch geworden sei, und sagte deshalb: »Hast du Angst? Das brauchst du nicht noch einmal durchmachen.«
»Nein?« sagte sie.
»Nie mehr.«
»Also vielleicht doch«, sagte sie und schlang, einfach aus guter Laune, die Arme um seinen Hals. Sie hatte Tränen in den Augen – vielleicht vom Lachen –, und im Licht der aufgehenden Sonne sah das Deck noch roter und grotesker aus. Was für eine Schweinerei, dachte sie. Sie sagte: »Es ist schon wieder gut, mach dir keine Sorgen«, was alles in allem unter den gegebenen Umständen ein recht freundlicher Abschied war.
»Warum, zum Teufel«, sagte sie mit plötzlichem Interesse, »schneiden denn Ärzte in Schulen nicht die Leichen auf, um festzustellen, wie der menschliche Körper zusammengefügt ist?«
Aber das wußte er nicht.
Sechs Wochen später gelangte sie – allein – zu jener Königin der Städte, jenem Mond unter Sternen, jener edlen, verächtlichen, tiefgründigen, einfältigen und völlig nervenzermürbenden Metropole der Welt: Ourdh, die manche von uns kennen. Sie tauchte so still und geschickt aus dem Dunkel auf, daß der Torwächter ihr unversehens ins Gesicht blickte: eine junge, grauäugige Frau vom Lande, stumm, schattenhaft, selbstsicher. Sie amüsierte sich köstlich. »Ich heiße Alyx«, sagte sie.
»Noch nie gehört«, sagte der Torwächter ein bißchen verärgert.
»Du liebe Güte«, sagte Alyx, »noch nicht«, und verschwand, ehe er ihr Einlaß gewähren konnte, durch das Tor, mit dem seltsamen leisen Lächeln, das man auf den Lippen sehr alter Statuen sieht: ausdruckslos, schlicht, klassisch.
Sie sollte zu gegebener Zeit klassisch werden.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Joanna Russ
Die Abenteuerin
Diese Reiseerzählung ist nur insofern interessant, als sie die Taten einer kleinen grauäugigen Frau betrifft. Kleine Frauen gibt es in Hülle und Fülle – auch solche mit grauen Augen –, aber diese Frau gehörte zu den weisesten ihres Geschlechts, das heißt, sie war unübertrefflich weise. Das ist nicht weiter verwunderlich (oder sollte es zumindest nicht sein), denn es ist allgemein bekannt, daß die FRAU eine ganze Viertelstunde vor dem MANN erschaffen wurde und diesen Vorsprung bis zum heutigen Tage gehalten hat. Tatsächlich wurde laut der Legende der erste Mann, Leh, aus dem sechsten Finger an der linken Hand der ersten Frau, Loh, geformt, und deshalb haben Frauen nur fünf Finger an der linken Hand. Die Dame, mit der wir es in dieser Geschichte zu tun haben, hatte aber noch alle ihre sechs Finger, und was noch mehr ist, sie funktionierten alle.
In dem siebenten Jahr vor der Zeit, von der wir reden, war diese Frau, eine adrette, gradlinige, resolute Person namens Alyx, als Mitglied einer religiösen Abordnung von den Bergen in die Stadt Ourdh gekommen, um die liederlichen Bewohner auf den Weg der Tugend zu bringen und zu dem einzig wahren Gott, einem Bhang-Baum von ehrfurchtgebietender Majestät, zu bekehren. Aber Alyx, eine junge Frau mit intellektueller Neigung, war noch keine zwei Monate in Ourdh, als sie zu dem Schluß kam, daß die Religion von Yp (so hieß der Berggott) verheerender Unsinn und das Betrügen einer jungen Frau in so wichtigen Dingen große Gedankenlosigkeit war, für die sie sich erst nach wochenlangem konzentriertem Nachdenken rächen konnte. Zu gegebener Zeit jagte die Polizei Alyxens Mitgläubige durch die Straße von Himmel und Hölle aus dem Sumpftor, damit die Moskitos, die im Schilf lauerten, sie beißen sollten, und Alyx verschaffte sich – mit einem verächtlichen Achselzucken – einen bescheidenen Lebensunterhalt als Diebin, ein Beruf, der ihr Gefühl für Feinheiten befriedigte. Dadurch hatte sie ein Einkommen, ein Handwerk und eine Gemeinschaft. Viel von dem Reichtum dieser reichsten und gemeinsten Stadt blieb an ihren Fingern kleben, aber das meiste zerrann zwischen ihnen, denn weltliche Dinge flößten ihr wenig Ehrfurcht ein. In jenem siebenten Jahr nach ihrer Ankunft sahen die Bürger von Ourdh, die ihren legalen oder illegalen Geschäften nachgingen, nur eine Frau mit kurzem schwarzem Haar und Sommersprossen auf ihrer milchweißen Nase; aber Alyx hatte den Ehrgeiz, ein Schicksal zu werden. Sie war dreißig (ein gefährliches Alter sowohl für Männer als auch für Frauen), als diese Geschichte begann. Yp ging seiner rätselhaften Wege, Alyx trat in Lady Edarras Dienste, und Ourdh sah keine von beiden wieder – wenigstens eine ganze Weile
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