Danach
einem dunklen Keller, der mehr als drei Jahre lang mein Zuhause werden sollte. Langsam schüttelte ich meine Benommenheit ab und versuchte, in dem grauen Meer vor meinen Augen etwas zu erkennen. Als ich endlich Konturen wahrnahm, schloss ich sofort wieder fest die Augen, um die Panik zu bekämpfen, die mich zu überwältigen drohte. Ich wartete zehn, zwanzig, dreißig Sekunden und öffnete dann erneut die Augen, um an meinem Körper hinunterzublicken. Ich war nackt und mit dem Fußknöchel an die Wand gekettet. Ein eiskalter Schauder durchfuhr meinen ganzen Körper, und mir wurde übel.
Ich war nicht alleine. In dem Keller waren noch zwei weitere Mädchen, abgemagert und nackt, die neben mir an die Wand gekettet waren. Vor uns stand eine Kiste, eine einfache Transportkiste aus Holz, etwa eineinhalb Meter lang und einen guten Meter breit. Die Öffnung der Kiste war von mir weggedreht, daher wusste ich nicht, ob sie einen Deckel hatte. Über uns an der Decke baumelte eine trübe Glühbirne, die ein wenig hin- und herpendelte.
Jennifer war nirgendwo zu sehen.
2
Dreizehn Jahre später hätte jeder, der mich nicht kannte – und machen wir uns nichts vor: mich kannte niemand –, glauben können, dass ich das Traumleben einer jungen Singlefrau in New York führte. Er hätte glauben können, dass sich für mich doch noch alles zum Guten gewendet hatte. Ich hatte weitergemacht, war darüber hinweggekommen, hatte das Trauma überstanden. Meine frühe Vorliebe für statistische Wahrscheinlichkeiten hatte sich ausgezahlt, und ich hatte einen festen, wenn auch nicht besonders glamourösen Job als Versicherungsmathematikerin bei einer Lebensversicherung ergattert. Wie passend, dass ich jetzt für eine Firma arbeitete, die Wetten über Tod und Unglücksfälle abschloss. Außerdem konnte ich von zu Hause aus arbeiten. Der Himmel auf Erden.
Meine Eltern verstanden nicht, warum ich so schnell nach New York City ziehen musste, obwohl ich mich noch längst nicht vollständig erholt hatte und jede Menge Ängste mit mir herumschleppte. Sie verstanden nicht, dass ich mich sicherer fühlte, wenn zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschenmassen vor meiner Tür unterwegs waren. Ich erklärte ihnen, dass in einer Stadt, die niemals schläft, immer jemand da ist, der einen schreien hört. Noch grandioser aber fand ich – und auch das konnten meine Eltern nicht nachvollziehen –, dass es in New York Wohnhäuser mit Pförtnern gab. Dort wohnte ich also, in der Upper West Side von Manhattan, umgeben von Millionen von Menschen und dennoch unerreichbar, wenn ich nicht erreicht werden wollte.
War Besuch da, meldete sich Bob über die Sprechanlage, und wenn ich nicht dranging, wusste er, dass ich niemanden sehen wollte – egal um was es ging. Wenn ich Essen bestellt hatte, nahm er die Bestellung entgegen und brachte sie mir persönlich nach oben, weil ihm die verrückte junge Frau aus Wohnung 11G leidtat, aber auch, weil ich ihm an Feiertagen dreimal so viel Trinkgeld gab wie alle anderen. Wenn ich wollte, konnte ich Tag für Tag zu Hause bleiben, rund um die Uhr, und mir jede Mahlzeit liefern und jede Besorgung von einem Boten erledigen lassen. Ich besaß eine blitzschnelle Internetverbindung und Kabelfernsehen im Premiumpaket. Es gab nichts, was mich zwang, die Ungestörtheit meiner großzügigen, gut ausgestatteten Wohnung zu verlassen, die ich mit Hilfe meiner Eltern gekauft hatte.
Die ersten Jahre in Freiheit waren der pure Wahnsinn, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Aber fünf Sitzungen pro Woche bei Dr. Simmons, der Therapeutin, die uns zur Verfügung gestellt worden war, hatten es mir ermöglicht, mein Studium zu beenden, einen Job zu finden und einigermaßen zu funktionieren in der echten Welt. Aber je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr stagnierte das Verhältnis zu meiner Seelenklempnerin, und ich musste feststellen, dass ich über einen gewissen Punkt nicht hinauskam.
Und dann legte ich den Rückwärtsgang ein. Zog mich langsam und kaum merklich zurück. Bis es mir allmählich immer schwerer fiel, vor die Tür zu gehen. Inmitten einer verrückten, ins Schleudern geratenen Welt, deren Bosheit ich jeden Tag mit Hilfe einer immer ausgeklügelteren Software in Zahlen fasste und die sich mir immer mehr einbrannte, zog ich es vor, in meinem sicheren Kokon zu bleiben.
Aber dann summte eines Tages die Sprechanlage, und Bob teilte mir mit, es sei keine Lieferung, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut. Ich hätte ihn nicht
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