Danach
herauflassen sollen, aber ich hatte das Gefühl, dass es das Mindeste war, was ich diesem Besucher schuldete. Und so begann alles.
»Caroline!«, rief Agent McCordy und klopfte an meine Tür, während ich zur Salzsäule erstarrt auf der anderen Seite stand. Ich hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit vor zwei Jahren der letzte Brief aus dem Gefängnis gekommen war. Ich war noch nicht bereit für einen weiteren.
Nach dem letzten Brief hatte ich angefangen, die Wohnung überhaupt nicht mehr zu verlassen. Allein die Tatsache, dass ich etwas angefasst hatte, was er angefasst hatte, etwas gelesen hatte, was er gedacht hatte, genügte, um mich zurück in einen Taumel aus Angst und Verzweiflung zu versetzen, den ich längst hinter mir gelassen zu haben glaubte. Dr. Simmons ging dazu über, regelmäßige Hausbesuche bei mir zu machen. Sie sagte es zwar nicht, aber ich wusste, dass ich im ersten Monat nach dem Brief wegen Selbstmordgefahr unter besonderer Beobachtung stand. Meine Mutter flog nach New York, mein Vater rief jeden Abend an. Ich wurde belagert. Und jetzt fing alles wieder von vorne an.
»Caroline, würden Sie bitte die Tür aufmachen?«
»Sarah«, verbesserte ich ihn und ärgerte mich darüber, dass er sich an die Regeln hielt und diesen anderen Namen benutzte.
»Entschuldigen Sie, ich meinte Sarah. Lassen Sie mich rein?«
»Haben Sie wieder einen Brief?«
»Ich muss über etwas Wichtigeres mit Ihnen sprechen, Car… Sarah. Ich weiß, dass Dr. Simmons Sie bereits auf diesen Moment vorbereitet hat. Sie hat gesagt, ich könnte vorbeikommen.«
»Ich möchte aber nicht darüber reden. Ich bin noch nicht so weit.« Ich zögerte, bevor ich mich in das Unvermeidliche fügte und zaghaft die drei Bolzenschlösser und das normale Türschloss entriegelte und langsam die Tür öffnete. Dort stand er und hielt mir seine aufgeklappte Polizeimarke hin. Er wusste, dass ich mich vergewissern wollte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Ich nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. Dann wurde ich ernst, verschränkte abwehrend die Arme und trat einen Schritt zurück. »Warum ich?«
Ich machte kehrt, und er folgte mir in die Wohnung, wo wir im Wohnzimmer Platz nahmen. Ich bot ihm nichts zu trinken an, weil ich Angst hatte, dass er sich zu wohl fühlen und zu lange bleiben könnte. Er sah sich um.
»Absolut makellos«, lobte er lächelnd. »Sie ändern sich nie, Sarah.« Er zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber hervor und legte sie penibel im Neunziggradwinkel auf den Wohnzimmertisch.
»Sie auch nicht«, gab ich zurück und musste unwillkürlich wieder lächeln.
»Sie wissen genau warum«, sagte er langsam und kam damit auf meine Frage zurück. »Und Sie wissen auch, warum es jetzt sein muss. Der Zeitpunkt ist gekommen.«
»Wann?«
»In vier Monaten. Ich bin etwas früher gekommen, um Sie vorzubereiten. Wir können uns zusammen vorbereiten. Wir erarbeiten jeden einzelnen Schritt mit Ihnen. Sie sind nicht allein.«
»Und was ist mit Christine? Und Tracy?«
»Christine spricht weder mit uns noch mit ihrer Sozialarbeiterin. Sie blockt uns vehement ab. Sie hat einen Investmentbanker geheiratet, der weder ihre Vergangenheit noch ihren echten Namen kennt, und wohnt mit ihm und den beiden gemeinsamen Töchtern in der Park Avenue. Eine der Töchter besucht seit diesem Jahr die Episcopal School. Christine macht einen großen Bogen um das Thema.«
Ich hatte bereits eine ungefähre Vorstellung von Christines Leben gehabt, aber es war mir immer unglaublich erschienen, wie gründlich sie die ganze Erfahrung aus ihrem Leben verdrängt hatte, sie herausgeschnitten hatte wie ein Krebsgeschwür. Dabei hätte ich es wissen müssen, denn Christine war diejenige gewesen, die nach dem ganzen Pressewirbel um unsere Geschichte geänderte Identitäten vorgeschlagen hatte. Mit einem festen Ziel vor Augen war sie aus der Polizeiwache getreten, so als hätte sie nicht die letzten zwei Jahre gehungert und die letzten drei Jahre zusammengekrümmt und heulend in einer Ecke verbracht. Sie blickte nicht zurück. Verabschiedete sich nicht von mir und Tracy. Zerbrach nicht, gab sich nicht geschlagen, kapitulierte nicht vor den jahrelangen Demütigungen und Schmerzen. Sie marschierte einfach davon.
Danach erfuhren wir von Christine nur noch durch die Sozialarbeiterin, die für uns alle zuständig war und uns jedes Jahr zusammenzutrommeln versuchte, in der irrigen Annahme, wir könnten uns gegenseitig helfen, über alles hinwegzukommen.
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