Danach
Blätter zu Boden segelten. Sie beugte sich eilig hinunter, hob sie auf, brachte sie wieder in die richtige Reihenfolge und legte sie ordentlich in einen Notizblock. Erst dann drehte sie sich in aller Seelenruhe zu mir um und sah mich an. Mir fiel auf, dass ihre rechte Hand schützend auf einem kleinen Stapel dicker Bücher ruhte.
»Haben Sie mich erschreckt!« Sie sagte es zwar in neutralem Tonfall, aber ihre Augen verrieten ihren Unmut.
Ich murmelte eine Entschuldigung, während ich verstohlen auf die Bücher auf dem Tisch schielte. Die meisten Titel klangen hochwissenschaftlich, aber ein sehr schlichter Titel sprang mir sofort ins Auge: Überzeugung durch Zwang . Als Adele merkte, dass ich die Buchrücken studierte, drehte sie sie von mir weg, ohne den Blick von mir abzuwenden. Sie schien sich ein wenig zu entspannen und forderte mich auf, mich neben sie zu setzen.
»Nicht gerade der optimale Ort für ein Gespräch«, sagte sie, ohne sich die Mühe zu machen, die Stimme zu senken. Offenbar galten die Bibliotheksregeln nicht für sie. »Was war letzte Nacht mit Ihnen los? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Ach, ich brauchte nur frische Luft. Dieser Club war ein bisschen zu viel für mich.« Ich versuchte zu lächeln, was gründlich missglückte.
»Klingt mir ganz nach einer Panikattacke. Nehmen Sie Medikamente dagegen?«
Ich kannte den Ausdruck in ihrem Blick ganz genau, auch wenn ich ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte: Berufliche Neugier, getarnt als Sorge.
Im ersten Jahr nach meiner Flucht hatte ich versucht, der Psychologenzunft entgegenzukommen, während diese angeblich versucht hatte, mir zu helfen. Es folgte eine endlose Odyssee aus Sitzungen, Gesprächen und Untersuchungen. Aus dieser Zeit war mir der Blick, mit dem mich Adele jetzt ansah, noch sehr vertraut. Es war der Blick einer Person, die in Gedanken bereits den entsprechenden Artikel in einer Fachzeitschrift formuliert. Wieder war ich nur das Versuchsobjekt, ein Gefühl, das mir ganz und gar nicht behagte.
»Mir geht’s gut, kein Grund zur Sorge. Danke, dass Sie mich zu diesem Club mitgenommen haben. Es war zwar nicht leicht für mich, aber ich glaube, ich habe dadurch ein paar gute … nun ja, Einblicke gewonnen.«
»Sie sollten wirklich nicht Auto fahren, wenn Sie merken, dass eine Panikattacke im Anmarsch ist. Ich hätte Sie in meinem Auto mitnehmen können.«
Sie musterte mich mit dem gleichen durchdringenden Blick, den ich von Dr. Simmons kannte. Routiniert, berechnend, manipulativ. Ich wusste genau, was jetzt kam: Sie holte zum entscheidenden Schlag aus.
»Was tun Sie da eigentlich wirklich, Sarah? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie auf diese Weise eine Leiche finden, oder? Ist das nicht eher ein Ausflug in Ihre Vergangenheit, um besser zu verstehen, was Ihnen damals passiert ist?«
Ihr Ton war herablassend, und ich verspürte den altvertrauten Drang, mich zu wehren. Ich stellte mir diesen Drang als Mauer vor, die Stein für Stein zwischen uns emporwuchs. Die jahrelange kognitive Verhaltenstherapie, der man mich ausgesetzt hatte, hatte eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Wie in einer Schlacht standen wir uns mit gezogenen Schwertern gegenüber, eine jahrhundertealte Fehde zwischen Gut und Böse, Subjekt und Objekt.
Sie beugte sich vor und glaubte anscheinend, ich würde den Eifer in ihrem Gesicht nicht bemerken. Weil ich neugierig war, worauf sie hinauswollte, beschloss ich, das Spielchen mitzuspielen.
»Ich hoffe, Sie kriegen es nicht in den falschen Hals«, begann sie, »aber ich habe mich gefragt, ob Sie nicht Lust hätten, in der Zeit Ihres Aufenthalts an einer Studie mitzuwirken. Sie würde auch nicht viel Zeit in Anspruch nehmen und Ihre Suche nicht beeinträchtigen. Nur ein paar kurze Befragungen. Ihr Fall ist nämlich sehr außergewöhnlich, und es liegen kaum Erfahrungswerte von Menschen vor, die ein solches Martyrium überlebt haben. Schon vor einigen Jahren habe ich eine viktimologische Studie entworfen, die …«
»Viktimologisch?«
»Die Opferforschung betreffend. Durch Ihre Mitarbeit könnten wir nicht nur den Heilungsprozess besser verstehen, sondern auch herausfinden, ob sich eine Opfertypologie für das jeweilige Verbrechen erstellen lässt.«
»Opfertypologie? Sie meinen, ob ich der ›Typ‹ bin, der öfter entführt wird als andere?«
»Nicht direkt, nein. Aber wir können Verhaltensmuster analysieren, Aktivitäten, frequentierte Orte, solche Dinge, und daraus Charakterisierungsmodelle
Weitere Kostenlose Bücher