Danach
reglos da und blickte mir hinterher. Ihr Gesichtsausdruck war so unergründlich wie eh und je.
19
Während ich erneut den Campus überquerte und durch die schwere Schwingtür des griechisch anmutenden Psychologiegebäudes ging, erinnerte ich mich an meine eigene Zeit an der Uni, damals, als ich nach meiner Flucht aus dem Keller noch einmal ganz von vorne angefangen hatte, dieses Mal an der New York University. Alleine, ohne Jennifer.
Aus heutiger Sicht schien es, als hätte ich während des gesamten Studiums nicht einmal den Blick vom Boden gehoben. Im Prinzip hatte ich drei Jahre in völliger Einsamkeit verbracht und dann in Rekordzeit meinen Abschluss gemacht, indem ich abends und während der Semesterferien zusätzliche Seminare besuchte.
Im Gegensatz zum ersten Mal hatte ich bei diesem zweiten Anlauf nie den Wunsch verspürt, ein normales Studentenleben zu führen, auf Partys zu gehen oder zusammen mit den anderen in der Bibliothek zu lernen. Am liebsten wäre ich unsichtbar gewesen. Ich sprach nicht mit meinen Kommilitonen, aß nicht in der Mensa, machte von keinem einzigen Freizeitangebot Gebrauch. Die New Yorker Uni war groß genug, dass man darin verschwinden konnte, und ich gab mir Mühe, genau das zu tun. Und wie ich mir Mühe gab.
Im Zuge des Studiums hatte ich auch zum ersten Mal meinen neuen Namen verwendet, ein Name, an den ich mich wohl nie gewöhnen würde. Wenn ich etwas unterschrieb, musste ich immer erst kurz überlegen, und wenn die Professoren oder Dozenten mich aufriefen, reagierte ich oft nicht, weshalb sie mich vermutlich für begriffsstutzig hielten. Zumindest so lange, bis sie meine Prüfungsergebnisse sahen und merkten, dass ich doch ein Talent besaß: ein Talent für Zahlen.
Mein Hauptfach war Mathe, weil ich Trost fand in einer Materie, bei der es nur Lösungen gab. Mir gefielen die ordentlichen Zahlenreihen, die dabei entstanden. Eine einzige, mit meiner stark geneigten Schrift zu Papier gebrachte Aufgabe nahm manchmal sechs oder sieben Seiten ein, Zahl für Zahl, Formel für Formel, Sinus für Kosinus.
In meinem Zimmer bewahrte ich sämtliche Seminarunterlagen in einem Regal neben meinem Bett auf, damit sie immer in Reichweite waren. Wenn ich nicht schlafen konnte, zog ich ein Heft heraus und ließ den Blick über die streng geordnete Pracht der darin notierten Zahlen gleiten. Wenigstens bei Rechenaufgaben konnte man sich darauf verlassen, dass sie jedes Mal zum selben Ergebnis führten.
In einer Hinsicht blieb ich Jennifer treu – ich legte den Schwerpunkt meines Studiums auf Statistik. Innerhalb eines Jahres machte ich meinen Master, und die Professoren flehten mich an, doch zu promovieren, aber ich ertrug es nicht länger, mit anderen Studenten in einem Raum eingepfercht zu sein. Die schiere Menge an Leuten, mit denen ich im Zuge meines Studiums täglich zu tun hatte, fing an mich aufzureiben. Meine Ängste wurden immer schlimmer, und selbst der größte Hörsaal löste klaustrophobische Gefühle in mir aus. Mit alles durchdringender Deutlichkeit nahm ich jedes Husten, jedes Flüstern, jeden fallen gelassenen Stift wahr und zuckte zusammen, während diese Geräusche noch lange in meinem Kopf nachhallten.
Am schlimmsten war es am Ende einer Vorlesung oder eines Seminars. Dann gab es plötzlich viel zu viele menschliche Körper, die in Bewegung gerieten und sich beim Anziehen von Mänteln oder Schals gegenseitig anrempelten. Ich saß immer vollkommen regungslos da, bis alle anderen gegangen waren und ich allein im Hörsaal zurückblieb. Erst wenn die Gänge sich geleert hatten und ich meinen Sicherheitsabstand zu den anderen Studenten einhalten konnte, machte ich mich auf den Weg. Nur so konnte mein Körper ungestört durch Raum und Zeit schweben, unberührbar, unberührt.
Ich riss mich aus der Vergangenheit los und blickte den langen Flur der psychologischen Fakultät entlang. Überall standen Studenten herum, meist in Grüppchen oder zu zweit, umgeben von ein paar einsamen Randexistenzen. Sie alle sahen so sorglos aus, so lebendig. Einige unterhielten sich, andere hingen ihren eigenen Gedanken nach, vielleicht an ein Seminarthema oder die Verabredung vom Vorabend.
Aber hinter all der Fröhlichkeit mussten ebenfalls verborgene Traumata lauern, statistisch gesehen ging es gar nicht anders, auch wenn man es auf den ersten Blick nie vermutet hätte.
Hier in diesem renovierten, freundlichen Teil des Gebäudes, in den durch ein Oberlicht Sonnenlicht hereinfiel, schien es, als
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