Danach
zeigt. Ich will nicht, dass die Leute ihn für einen durchgeknallten Spinner halten. Aber wir dachten uns, dass es Sie bestimmt interessiert.«
Tracy griff nach dem Album und schlug die erste Seite auf. Statt der erwarteten Fotos befanden sich darin sorgfältig archivierte Zeitungsausschnitte. Neben jedem Ausschnitt klebte eine Karteikarte, die mit einer feinen, stark nach links geneigten Handschrift beschrieben war.
»Meine Notizen«, erklärte Ray. »Darin habe ich die Fernsehmeldungen zusammengefasst und meine eigenen Gedanken hinzugefügt. Mir war nämlich von Anfang an klar, dass noch mehr hinter der Geschichte steckt. Wenn Sie mich fragen, hat die Presse damals lediglich die Oberfläche des Ganzen erfasst.«
Ich blickte zu Tracy hinüber, die wie gelähmt dasaß. Auch ich war wie vor den Kopf gestoßen. Vor zehn Jahren hatte ich natürlich gewusst, dass die Medien über unseren Fall berichteten, aber meine Eltern hatten mir sämtliche Berichte und Artikel vorenthalten, hatten mich zu Hause behalten und vom Presserummel abgeschirmt. An dem vielen Essen, das meine Mutter damals für mich kochte oder das die Nachbarn in dampfenden Auflaufformen vorbeibrachten, hatte ich mich völlig überfressen.
Rückblickend war ich fast so etwas wie eine Gefangene im Haus meiner Eltern gewesen, wo ich geduldig auf dem Sofa lag, während sie mich stundenlang entzückt und ungläubig anstarrten und mir alles besorgten, was ich haben wollte. Neue Hausschuhe, eine Tasse Zitronen-Ingwer-Tee, sämtliche Desserts, die ich als Kind gerne gegessen hatte.
Aber meine Lieblingsgerichte schmeckten mir nicht mehr. Durch die traumatische Erfahrung im Keller hatten sich sogar meine Geschmacksnerven verändert. Zwischenzeitlich befürchtete ich, meine Mutter könnte auf die Idee kommen, ich sei gar nicht mehr ihre Tochter. Sie wollte alles wissen, was uns widerfahren war, aber ich erzählte ihr nur in sorgfältig aufbereiteten Häppchen, was Jack Derber mit uns gemacht hatte. Durch diese sparsame Dosierung hoffte ich, ihr das volle Ausmaß der Wahrheit ersparen zu können. Ich wusste, dass sie es nicht ertragen würde, und glaubte, dass nur ich abwägen konnte, wie viel ihr zuzumuten war.
Nach meiner Rückkehr aus dem Keller wirkte die ganze Welt verschwommen, grell und unwirklich. Ich hatte lange Zeit nur in meinem Kopf gelebt und meine Umgebung vollkommen ausgeblendet, und so fiel es mir schwer, wieder anwesend zu sein, wieder ganz da . Trotz der unermüdlichen Bemühungen meiner Mutter waren wir weiterhin voneinander getrennt.
Diese Kluft ließ sich bis heute nicht überwinden. Am traurigsten machte meine Mutter, dass ich es nicht ertrug, wenn sie mich in den Arm nahm, dabei war es das, was sie sich am meisten wünschte. Aber was mich betraf, war die Verbindung zu ihr gekappt. Die einzige Bindung, die ich noch spürte, war die zu einem toten Mädchen, das irgendwo in Oregon in der Erde verscharrt war.
Meine Mutter war natürlich ebenfalls bestürzt über Jennifers Tod, aber ihre Freude darüber, dass ich noch am Leben war und sie mich wiederhatte, stellte die Trauer um ihre verlorene Pflegetochter in den Schatten. Ich hingegen fand, nein, ich wusste , dass Jennifer mehr verdient hatte. Sie hatte echte Trauer verdient, ihre eigene Trauer, und ich schien die Einzige zu sein, die ihr das Verdiente in angemessener Form geben konnte.
Noch zu Highschoolzeiten hatte Jennifer aufgehört, mit ihrem Vater zu sprechen, und danach hatte er nur noch halbherzig versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Diese Tatsache verschwieg er natürlich, als er der Presse von seiner tiefen, unauslöschlichen Trauer berichtete. Irgendwann besuchte er mich bei meinen Eltern, wo ich ihn misstrauisch beäugte, weil ich erkannte, dass sich hinter der Fassade des trauernden Vaters ein eigennütziger Mensch versteckte, der Aufmerksamkeit wollte. Seine Tränen zählten also nicht.
Und nun saß ich hier in dieser gemütlichen, nach Kaffee riechenden Küche in Keeler und beugte mich über Zeitungsausschnitte aus meinem früheren Leben. Ich betrachtete sie aufmerksam, las hier und da ein paar Absätze und merkte, wie sich der Tonfall veränderte, je mehr Details ans Licht kamen. Da war sie wieder, die altbekannte Gier nach beruflichem Erfolg. Diesmal nicht die der Psychologen, sondern die der Journalisten, denen immer mehr aufging, welchem aufsehenerregenden Schauermärchen sie da auf der Spur waren.
Mir fiel auf, dass unter vielen Artikeln derselbe Name stand: Scott
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