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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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sie hat nur dieses eine Mal über ihn gesprochen, und danach hat sie mich angefleht, regelrecht angefleht, niemandem etwas davon zu sagen. Ich kann das arme Mädchen doch nicht verraten. Es wäre mir unerträglich, wenn ihre Worte in einem Buch auftauchen würden.« Er zwickte sich in den Nasenrücken und kniff die Augen zu, offenbar um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
    »Ich … ich verspreche Ihnen, dass nichts davon in meinem Buch vorkommen wird. Aber es könnte uns dabei helfen, sie zu finden.«
    Tracy sprang mir bei: »Sie hat recht, Ray. Vielleicht sind Sie ja ohne es zu merken auf etwas Wichtiges gestoßen.«
    »Meinen Sie? Glauben Sie wirklich, dass etwas, was sie vor so langer Zeit gesagt hat, hilfreich sein könnte? Ich mache mir in der Tat Sorgen, weil wir sie schon so lange nicht mehr gesehen haben.«
    »Dann sagen Sie es uns, Ray. Wir wollen ihr auch nur helfen.«
    Ray blickte nachdenklich aus dem Fenster und setzte sich dann auf einen Lehnstuhl in der Ecke. Wir nahmen auf einem kleinen Sofa an der gegenüberliegenden Wand Platz, nachdem wir einen Stapel aktueller Zeitungsartikel über ein anderes verschwundenes Mädchen beiseitegeschoben hatten.
    »Sylvia hat mir erzählt, dass Jack ihrer Meinung nach ein Genie ist. Deshalb hat sie ihn geheiratet. Weil er eine Vision hat – so hat sie es ausgedrückt – und weiß, wie man die Welt in einen ganz besonderen, außergewöhnlichen Ort verwandeln kann. Das könnten aber nur jene Menschen verstehen, die sich sämtlichen Möglichkeiten der Erfahrung vorbehaltlos öffnen würden.
    Es war nicht nur, was sie gesagt hat, sondern wie sie es gesagt hat. Sie war gleichzeitig voller Freude und voller Angst. Solch einen Gesichtsausdruck habe ich vorher noch nie gesehen. Ihr Gesicht wirkte irgendwie … erleuchtet.«
    Ich sah zu Tracy hinüber und versuchte, ihre Miene zu deuten. Sie schien angestrengt nachzudenken. Ich fragte mich, ob sie genau wie ich den Eindruck hatte, dass das nicht nach einer bekehrten Person klang, die aus dem Gefängnis wollte, um ein ruhiges, normales Leben in einer ruhigen, normalen Gegend zu führen. Das klang eher nach einem Mann, der eine Mission hatte. Eine schreckliche Mission.
    Als wir später zurück ins Hotel fuhren, schaltete Tracy das Radio ein, ihren emotionalen Schutzschild. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander.
    »Also, was sagt dein rationaler Verstand?«, fragte sie schließlich.
    »Wozu? Das war ganz schön viel zu verdauen.«
    »Na, zu der alles entscheidenden Frage: Ist Jack krank, oder ist er böse?«
    »Was für eine psychische Störung sollte er denn deiner Meinung nach haben?«
    »Die gängigen Nachschlagewerke zur psychologischen Diagnose würden da vermutlich etwas Passendes ausspucken. Jack wäre sicher mindestens ein ›Soziopath mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung‹. Aber was das in Bezug auf moralische Verantwortung bedeutet, kann ich dir nicht sagen. Ist er krank? Jemand, den man bemitleiden muss, statt ihn zu fürchten? Wenn du mich fragst, ist das ein großer Unterschied. Der entscheidende Unterschied. Davon hängt ab, ob man so eine Erfahrung ›hinter sich lassen‹ und sein Leben ›weiterleben‹ kann, wie es so schön heißt.«
    »Hinter sich lassen?« Ich wusste überhaupt nicht, was das war. Und ich war noch nicht bereit, Tracy zu gestehen, dass Sinn und Zweck dieser Reise darin bestanden, es herauszufinden.
    »Ja, du weißt schon: Abstand gewinnen und diese schrecklichen Gefühle loswerden. Das, was er uns angetan hat, von der mentalen Festplatte löschen. Ein normales Leben führen. So was alles.«
    Sie warf mir einen schnellen Blick zu, bevor sie sich wieder der Straße zuwandte. Dann saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander.
    Bis Tracy erneut anfing zu sprechen, zögerlich dieses Mal. »Findest du nicht, dass wir irgendwie … fast schon verpflichtet sind, die ganze Sache zu verstehen? Sie zu verarbeiten und hinter uns zu bringen? Denn wenn nicht, ist er immer noch da, immer noch in uns drin. Dann hat er immer noch die Kontrolle über uns.«
    Mit dieser Einschätzung traf sie voll ins Schwarze. Ich spürte, wie ich dichtmachte, genau wie bei Dr. Simmons, wenn mich etwas, was sie sagte, zu sehr berührte. Ich wollte mich nicht weiter auf dieses Thema einlassen.
    »In dieser Hinsicht habe ich offenbar nicht ganz so hohe Erwartungen wie du. Und ich verstehe auch nicht, inwiefern meine Meinung über Jack wichtig sein sollte.«
    Tracy schüttelte den Kopf. »Du hast ja

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