Danach
Weber. Das musste der Reporter sein, den David Stiller erwähnt hatte, der Reporter, der einen Narren an Adele gefressen hatte. Ich sprach meinen Gedanken laut aus und fragte Tracy, ob wir uns ihrer Meinung nach mit ihm treffen sollten. »Auf jeden Fall«, antwortete sie, ohne von den Zeitungsartikeln aufzublicken. In ihren Augen glitzerte es verdächtig. Es war also auch für sie schwer. Auch für sie.
»Ray«, sagte Tracy, ohne den Blick zu heben. »Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für diesen Fall so besonders?«
Ray lächelte breit. »Oh, ich interessiere mich keineswegs nur für diesen Fall, auch wenn er an Dramatik natürlich kaum zu überbieten ist. Nachdem Sylvia in diese Gegend gezogen ist, hat er sich allerdings ein bisschen zur Besessenheit entwickelt.«
Ich sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«
»Tja, da kommen Sie wohl am besten mit.« Wir folgten ihm den Flur entlang zu einer Tür. Ich ließ mich ein paar Schritte zurückfallen, weil mir die Nähe zu anderen Menschen zu viel wurde und ich mich plötzlich eingeengt fühlte. Selbst in einem hellen, fröhlichen Ambiente wie diesem fiel es mir schwer, enge Flure entlangzugehen.
Als ich hinter Ray und Tracy das kleine Arbeitszimmer betrat, schnappte ich nach Luft. Sämtliche Wände waren mit Zeitungsartikeln tapeziert, mit Berichten und Fotos der grausamsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann. An der Wand hinter dem Schreibtisch lehnten gerahmte Kopien historischer Dokumente, die alle mit berühmten Mordfällen zu tun hatten. Ray hatte tief in der Vergangenheit gegraben und sich in jahrelanger Arbeit ein kunstvolles, makabres Horrorkabinett eingerichtet, ein Archiv der unterschiedlichen Ausprägungen von menschlicher Gewalt.
Ein langes Regalbrett an der Wand enthielt Fotoalben, die genauso aussahen wie das Album, das er uns in der Küche gezeigt hatte. Jeder Albumrücken trug ein Etikett, auf dem ein Name stand. Ich überlegte, ob es die Namen der Opfer oder der Täter waren. Normalerweise erinnern sich alle nur an die Täter, dachte ich verbittert.
Ich sah mich nach Ray um, der vor Stolz strahlte. Er schämte sich kein bisschen für seine Leidenschaft, warum auch? Für ihn waren es nur Geschichten. Nahm er die Opfer überhaupt als reale Personen wahr, verstand er das ganze Ausmaß der Tragödien, des Horrors, der in diesen Alben steckte? Da waren Menschenleben für immer zerstört worden, und er stand hier und betrachtete das Leid dieser Menschen als Hobby. Wie Briefmarkensammeln.
Ich brauchte Tracy nicht anzusehen, um zu wissen, dass auch sie entsetzt war. Uns fehlten die Worte. Mir war völlig schleierhaft, wie sich jemand ausgerechnet zu jenen Dingen hingezogen fühlen konnte, die ich verzweifelt aus meinem Leben zu verbannen versuchte. Als Ray unsere schockierten Gesichter bemerkte, setzte er zu einer Erklärung an.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Dass das alles ein bisschen … nun ja, eigenartig ist. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich selbst habe mich auch oft gefragt, ob mit mir vielleicht etwas nicht stimmt. Aber ich glaube … ich glaube, dass ich einfach nur verstehen will. Ich will verstehen, warum jemand so etwas tut, wie es dazu kommt. Oft werden die Leute von ihrer Leidenschaft übermannt und tun Dinge, von denen sie nie geglaubt hätten, dass sie dazu in der Lage wären. Von einer Sekunde auf die andere ändert sich ihr ganzes Leben. Manchmal sind die Täter aber auch krank, psychisch krank, meine ich, und können nicht anders. Und dann gibt es wiederum Fälle, seltene Fälle, in denen das Böse am Werk zu sein scheint. Echte Bosheit. So wie bei Jack Derber.«
»Sie glauben also nicht, dass er psychisch krank ist, Ray?« Tracy war plötzlich munter geworden, ihr Interesse war geweckt. Mir wurde bewusst, dass auch sie immer noch nach Antworten suchte. Und das, obwohl ich geglaubt hatte, sie hätte alles säuberlich analysiert und abgespeichert, um anschließend mit ihrem Leben weiterzumachen. Vielleicht hatte auch die selbstsichere Tracy, die immer auf alles eine Antwort zu wissen schien, noch ihre Fragen und Zweifel. Genau wie ich.
»Nein, ich denke nicht, dass er krank war. Er … er war so berechnend. Alles, was er getan hat, verlangte sorgsame Planung und kontrolliertes Handeln. Ich habe Sylvia über ihn ausgefragt.« Er brach ab und senkte den Blick.
»Bitte sprechen Sie doch weiter«, forderte ich ihn auf. »Sie würden uns damit … wirklich helfen, die ganze Sache zu verstehen.«
»Na ja,
Weitere Kostenlose Bücher