Danach
auf, und die verblichene Wandfarbe blätterte ab und war von einem matten Schimmer überzogen, wie ihn jahrzehntelange Berührungen mit menschlichem Fleisch verursachen.
Es schien, als hätte sich jeder Polizist des gesamten Bezirks in der Wache versammelt, während vor dem Gebäude sämtliche Journalisten und Filmteams des Bundesstaates lauerten. Drei Krankenwagen warteten mit blinkendem Blaulicht auf unsere Ankunft, und sobald wir die Polizeiwache betreten hatten, eilten Sanitäter auf uns zu.
Kurz darauf saß ich in eine Decke gewickelt auf dem Schreibtisch eines Polizeibeamten, während dieser ein paar Schritte entfernt stand und mich fasziniert anglotzte. Christine und Tracy saßen links und rechts von mir auf fahrbaren Bürostühlen. Irgendjemand drückte mir einen Becher Kaffee in die Hand, von dem ich zaghaft einen Schluck nahm. Christine wackelte auf ihrem Stuhl leicht vor und zurück, ein nervöser Rhythmus.
Ich fühlte mich an eine ganz ähnliche Szene erinnert, die sich vor zehn Jahren ereignet hatte, nur dass wir dieses Mal von Mädchen in bodenlangen Gewändern umringt waren, die teilweise von anderen Polizeibeamten befragt wurden, teilweise stumm ihren Kaffee tranken und ins Leere starrten. Sie hatten sichtlich Mühe, diese neue Entwicklung zu verarbeiten. Ich verstand ihre Verwirrung. Für mich hingegen war die Situation vertraut, ich hatte das alles schon einmal erlebt.
»Irgendwann wird mir irgendjemand erklären müssen, was da gerade passiert ist, aber fürs Erste bin ich vollkommen zufrieden damit, hier in dieser seltsamen kleinen Wache auf dem Schreibtisch zu sitzen und Kaffee zu schlürfen, der wie Dachpappe schmeckt«, erklärte ich und verspürte beinahe so etwas wie Glück. Ich war gestärkt aus den vergangenen Stunden hervorgegangen, statt mich von ihnen in mein früheres Trauma zurückversetzt zu fühlen. Für mich war das Böse längst zum Normalzustand der Welt geworden. Konkrete Gefahrensituationen verkraftete ich besser als die Ungewissheit, das Warten auf etwas, was vielleicht irgendwann passierte.
»Na ja, eigentlich ist alles ganz einfach«, setzte Christine zu einer Erklärung an. »Als Tracy mich gestern Vormittag wegen der Liste anrief …«
»Welcher Liste?«, fragte ich. Der Schock hatte meine Erinnerung an den gestrigen Tag ausgelöscht.
»Du weißt schon: Jims Liste mit den Mädchen, die verschwanden, während Jack Derber wissenschaftliche Fachkonferenzen besucht hat.« Ich nickte, und sie fuhr fort: »Als sie mir davon erzählt hat, hat es irgendwie Klick gemacht. Ich wusste plötzlich, dass ich mit allen Mitteln verhindern musste, dass er auf freien Fuß kommt. Schließlich habe ich selbst Töchter, wie du ja richtig festgestellt hast. Aber das war nicht der einzige Grund. Nachdem ich euch in New York gesehen hatte, musste ich über eure Suche nachdenken. All die Jahre hatte ich versucht, unsere Vergangenheit zu vergessen. Ich hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen, weil ich befürchtete, das nicht aushalten zu können. Aber wenn noch andere Mädchen da draußen … dann musste ich einfach …«
Sie atmete tief durch.
»Ich habe meinem Mann erzählt, dass meine Cousine krank sei und ich noch heute zu ihr fliegen müsse, woraufhin er die Mädchen zu seinen Eltern nach Connecticut gebracht hat, weil er, wie er sagt, eine ›total verrückte‹ Woche vor sich hat.« Wir mussten alle drei grinsen. »Na ja, jedenfalls habe ich den nächsten Flug gebucht und vom Flughafen Jim angerufen, der mir gesagt hat, in welchem Hotel ihr übernachtet.«
Tracy nickte. »Das war also der Flug, den du gestern erwischen musstest.«
»Aber woher wusste Jim …?« Christine zuckte mit den Schultern, noch bevor ich die Frage zu Ende gestellt hatte. Offenbar hatte Jim doch besser auf uns aufgepasst, als er zugeben wollte.
»Ich bin spät abends auf den Hotelparkplatz gefahren«, fuhr Christine fort. »Und dann saß ich eine ganze Weile in meinem Mietwagen und habe darüber nachgedacht, ob ich wirklich bereit war.
Als ich mich dann endlich dazu durchringen konnte, die Autotür zu öffnen, habe ich euch vom Parkplatz fahren sehen. Natürlich bin ich euch gefolgt und habe versucht, durch Aufblenden und Hupen eure Aufmerksamkeit zu erregen, aber ihr zwei habt nichts davon mitgekriegt. In Anbetracht eures Ziels verstehe ich inzwischen natürlich, warum. Eine Zeitlang habe ich euch aus den Augen verloren und bin verschiedene Wege abgefahren, bis ich euren Mietwagen am Straßenrand bei einer
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