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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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Tag , ohne dass sie jemand anfasst. Also halt verdammt nochmal den Mund!«
    Ich sah das Mädchen ungläubig an. Dann blickte ich zu Tracy hinüber. Verstand sie, was das für unseren Fall bedeutete? Etwas so Schlimmes wie diese Mädchen hatte ich nie getan. Ich wollte, dass sie endlich begriff, zu was Schmerzen und Leid einen Menschen treiben können. Aber ihr Gesicht war so teilnahmslos wie das einer Statue.
    »Lasst uns schlafen«, sagte das Mädchen unvermittelt. »Wir können sowieso keine weiteren Pläne schmieden, solange wir nicht wissen, was der Morgen bringt.«
    Ich ließ meinen Kopf nach hinten gegen die Seitenwand des Busses sinken und versuchte, ihrem Rat zu folgen, aber ich fand keinen Schlaf. Ein Blick auf Tracy verriet mir, dass es ihr genauso ging. Sosehr wir diesen Schlaf auch brauchten, um Kraft für den nächsten Morgen zu schöpfen, er war ein Ding der Unmöglichkeit.
    Während der Kleinbus durch die Nacht fuhr und ich über die Worte des Mädchens mit dem Kurzhaarschnitt nachdachte, verließ mich meine Ruhe. Mein Herz pochte so heftig, dass ich glaubte, es würde mir die Brust sprengen.
    Nach einigen Stunden – es musste inzwischen kurz vor Tagesanbruch sein – nahm der Bus erneut eine Abzweigung und rumpelte eine unbefestigte Straße entlang. Er schwankte von einer Seite zur anderen und quietschte laut. Dann wurde er langsamer und kam zum Stehen. Tracy und ich schraken auf, und Tracy stupste das Bein des Mädchens an, um es aufzuwecken. Benommen schüttelte es den Kopf. Zuerst war sein Blick noch konfus, aber dann erkannte es uns und nickte.
    Tracy beugte sich zu ihr und flüsterte: »Wie heißt du eigentlich?«
    »Was?«, murmelte das Mädchen verwirrt.
    »Wie du heißt«, wiederholte Tracy.
    »Ach so.« Sie lächelte uns an und entblößte dabei ihre Zahnlücken. »Das hat mich schon lange niemand mehr gefragt. Ich heiße Jenny.«
    Jenny. Der Name gab mir neuen Mut. Ich sah zu Tracy und erkannte in ihrem Gesicht die gleiche Entschlossenheit, die auch ich spürte. Gemeinsam wappneten wir uns für den Moment, in dem die Tür aufging.

30
    Wir saßen lange angespannt nebeneinander und warteten, während der Kleinbus mit laufendem Motor dastand und unsere Sitze kaum merklich unter uns vibrierten. Dann erstarb der Motor. Die Vordertüren wurden geöffnet und wieder zugeworfen. Es war still. Zu still. Fünf Minuten vergingen. Zehn.
    Tracy und ich umklammerten die Kunstledersitze und warteten. Jemand betätigte den Griff außen an der Heckklappe, doch nichts passierte. Dann wurde die Tür an der Fahrerseite ganz langsam, nervenaufreibend langsam geöffnet. Es war, als wollten sie uns verhöhnen. Wir saßen still da, lauschten und dann geschah es. Plötzlich klickte das Schloss an der Heckklappe. Jetzt würden sie uns holen.
    »Keine Ahnung, wer das ist«, flüsterte Jenny. »Eigentlich kenne ich alle ihre Ticks und Macken. Vielleicht ein neuer Aufpasser.«
    »Das ist doch gut für uns, oder?« Tracy versuchte optimistisch zu klingen, aber ihre Stimme verriet sie. »Vielleicht kennt er sich noch nicht so gut aus, und wir können ihn überrumpeln.«
    Jenny stand auf und ging mit eingezogenem Kopf zur Hecktür. Auch Tracy und ich schoben uns an den Knien und Füßen der neben uns sitzenden Mädchen vorbei, die versuchten, die letzten wertvollen Minuten Schlaf auszukosten.
    Dann flogen plötzlich die beiden Heckklappen auf. Statt nach vorne zu springen und mich sämtlichen Widerständen entgegenzuwerfen, blieb ich wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Ich traute meinen Augen nicht. Einen Sekundenbruchteil später ertönte Tracys zitternde Stimme hinter mir: »Christine?!«
    Tatsächlich stand dort Christine in ihrer ganzen Park-Avenue-Pracht: von oben bis unten im New Yorker Einheitsschwarz gekleidet, perfekt frisiert und mit dem idealen Schuhwerk für eine herbstliche Tageswanderung. Sie hielt die beiden Hecktüren offen und starrte entsetzt auf die menschliche Fracht des Kleinbusses, bevor sie aus ihrer Schockstarre erwachte.
    »Alle raus! Wir müssen hier weg.« Sie sagte es so selbstbewusst und resolut wie eine Vorstadtmutter, die das Juniorenteam des örtlichen Lacrosse-Vereins aus dem Mannschaftsbus beordert. Gehorsam kletterten Tracy und ich aus dem Bus, gefolgt von den Mädchen, die sich endlich aus ihren Träumen losgerissen hatten. Ungeduldig packte Tracy die Nachzügler beim Arm und zerrte sie ans Tageslicht. Einige waren wie vor den Kopf gestoßen und verstanden gar nichts mehr. Mir selbst

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