Danach
uns mit den Fingern, was sie meinte.
»Könnte es auch … wäre es möglich, dass es ein kopfloser Mann ist, der die Arme ausstreckt? Ein bisschen wie in dieser Zeichnung von Leonardo da Vinci?«
Sie zuckte mit den Schultern, und es blieb offen, ob sie die da-Vinci-Zeichnung nicht kannte oder die Ähnlichkeit des Brandzeichens mit einem kopflosen Mann bestritt. »Weiß nicht. Vielleicht.«
Ich schnallte mich ab und stand auf, wobei ich mir fast den Kopf am Autodach anstieß, und drehte mich ein wenig zur Seite. Nachdem ich meine Jeans aufgeknöpft hatte, zog ich sie ein Stück herunter und zeigte auf meinen »Klumpen Narbengewebe«.
»Sieht es so aus?« Ich schrie die Frage mit zitternder Stimme.
Das Mädchen legte wütend den Finger an die Lippen und zischte: »Sei still, sonst halten sie an und sehen nach, was los ist!«
Dann beugte sie sich nach vorne, und ich schob meine Hüfte näher ans Licht. Sie musterte das Brandzeichen gründlich und zuckte dann erneut mit den Schultern.
»Ja, das könnte es durchaus sein. Wie gesagt, das ist schwer zu erkennen.« Dann machte sie plötzlich ein erschrockenes Gesicht. »Moment mal: Heißt das, dass ihr früher auch Sklavinnen wart und geflüchtet seid? Heißt das, dass sie … dass sie euch zurückgebracht haben? Es ist also doch keine leere Drohung! Deshalb seid ihr auch schon so alt.«
Ich spürte, wie Tracy neben mir erschauderte. Wir fragten uns beide, ob das Mädchen vielleicht recht hatte. Waren wir nach all der Zeit wieder im Netzwerk gelandet, bei unseren »rechtmäßigen Besitzern«? Waren die zehn Jahre dazwischen nur ein Hirngespinst gewesen, während wir jetzt wieder in der Realität angekommen waren?
»Ich …«, stammelte sie und lehnte sich vor, um uns kritisch zu beäugen. »Ich muss euch also nicht erklären, was euch erwartet? Ihr wisst es bereits?«
Tracy beugte sich ebenfalls vor. Ihre Gesichter berührten sich fast unter dem schwachen Schein des einzelnen Lämpchens.
»Jetzt hör mir mal gut zu. Was wir damals durchgemacht haben, war eindeutig schlimmer. Ich wurde fünf Jahre lang von einem gottverdammten Psychopathen in einem gottverdammten Keller gefangen gehalten, an eine Wand gekettet. Nur zum Foltern hat er mich nach oben geholt.« Sie lehnte sich zurück und erwartete, dass das Mädchen sie schockiert ansah, aber es zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
»Klingt um Längen angenehmer als das hier. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hattet ihr nur einen einzigen Freier. Ein Freier ist besser als Hunderte von Freiern, das ist eine ganz einfache Rechnung. Wenn man nur einen Freier hat, kann man ihn nach gewisser Zeit irgendwie einschätzen, egal wie psycho er ist. Verstehen, wie er tickt, vorausplanen, ihn manipulieren. Das mag nur bis zu einem gewissen Grad funktionieren, aber vielleicht genügt es, um die Schmerzen ein bisschen erträglicher zu machen. Wenn man ständig neue Freier hat, weiß man nie, was einen erwartet.«
»Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Tracy verächtlich. »Wenigstens dürft ihr raus in die Welt.«
» Raus in die Welt? «, wiederholte das Mädchen höhnisch. »Hast du eine Ahnung! Sind Keller und Gummizellen und spezialangefertigte Folterräume für dich …« Sie brach plötzlich ab, biss sich auf die Unterlippe und drehte sich von uns weg.
Als sie uns kurz darauf wieder das Gesicht zuwandte, lag ein dunkler Schleier vor ihren Augen. Ihre taffe Pose war für den Bruchteil einer Sekunde verschwunden und entblößte die Angst und das Leid dahinter.
Mir gefielen die Bilder ganz und gar nicht, die plötzlich mein Gehirn fluteten. Ich wollte nicht wissen, was den Schmerz verursacht hatte, den ich auf ihrem Gesicht sah.
»Warum konzentrieren wir uns nicht auf das, was vor uns liegt?«, schlug ich vor. »Es ist doch vollkommen egal, wer mehr gelitten hat. Viel wichtiger ist doch die Frage, wie wir es schaffen, dass wir in Zukunft nicht mehr leiden müssen.« Ich drehte mich zu den wie ferngesteuert wirkenden Gestalten neben uns im Bus um. »Wir sind schließlich in der Überzahl!«
Das Mädchen mit dem herausgewachsenen Kurzhaarschnitt funkelte mich böse an. Ihre Lippen zuckten vor Wut, als sie mir zuzischte: »Sei endlich still! Wenn du versuchst, hier eine Revolution anzuzetteln, verpetzen sie dich schneller, als du gucken kannst. Diese Mädchen warten nur auf eine solche Gelegenheit, denn wenn sie nützliche Informationen weitergeben, bekommen sie einen ganzen Tag frei. Einen ganzen
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