Dance of Shadows
glaub ich dir gern. Und ich weiß auch, wie stolz deine Schwester wäre, dass du in ihre Fußstapfen trittst. Und wie stolz ich erst bin – das bin ich wirklich! Obwohl ich dir vielleicht keine große moralische Stütze sein mag, aber ich möchte einfach nicht, dass du in allem genau in die Fußstapfen deiner Schwester trittst.«
»Was meinst du damit?«
»Sie war noch so jung, als sie für die Hauptrolle besetzt wurde … ich vermute, sie war noch zu jung dafür, und sie konnte dem Druck nicht standhalten. Und jetzt, wo du den Solopart tanzt, will ich … ich will dich nicht auch noch verlieren!«
Vanessa blickte auf das Morgenrot über dem Lincoln Center, und auf einmal hatte sie schreckliche Gewissensbisse. »Mach dir keineSorgen, Mom.« Sie hob ihre Tasche vom Boden auf. »Ich würde niemals weglaufen. Im Gegenteil. Ich bin gerade auf dem Weg zum Trainingssaal.«
Vanessa sah zu, wie der Hausmeister den Boden neben der Treppe aufwischte. Als sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, trafen sich ihre Blicke, als wüsste er genau, welche Gedanken ihr vorhin gerade durch den Kopf gegangen waren. Vanessa wandte den Blick ab und ging den Korridor hinunter Richtung Trainingssaal.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie ihre Mutter tief durchatmen. »Dann ist es ja gut, mein Liebes.«
»Übrigens, Mom, hat dir Margaret je von einem Tagebuch erzählt, das sie geführt hat?«
Ihre Mutter schwieg einen Augenblick. »Nicht dass ich wüsste. Hast du gerade gesagt, du bist auf dem Weg zum Training? Ist es nicht noch schrecklich früh dafür? Ich will nicht, dass du dich verletzt oder dass du deine ganze Freizeit mit Trainieren verbringst.«
Vanessa hatte schon eine Antwort parat, aber als sie hörte, was ihre Mutter sagte, schwieg sie.
»Und wie geht es dir mit diesen Schwindelattacken? Sind sie schlimmer geworden?«
Vanessa wurde ärgerlich.
»Du machst immer aus einer Mücke einen Elefanten«, sagte sie. »Das passiert nur, wenn ich wirklich perfekt tanze. Ich weiß gar nicht, warum du da so ein großes Problem siehst.« In Wahrheit hatte es Vanessa aber schon beunruhigt, als sie erfahren hatte, dass von ihren neuen Freunden anscheinend niemand unter dem gleichen Problem litt.
»Ich meine es doch nur gut«, beschwichtigte ihre Mutter sie. »Du weißt, dass du jederzeit nach Hause kommen kannst. Wir können dein Zimmer wieder genauso einrichten wie vorher. Es wird alles so sein wie früher.«
Vanessa biss sich auf die Lippe. Sie konnte nicht einfach von hier fortgehen. War wäre dann mit ihren Freunden? Und mit Zep? Und Margaret? Jetzt, wo sie endlich das Gefühl hatte, dass sie Fortschritte machte und nach und nach all die seltsamen Mosaiksteinchen an Informationen rund um Margarets Verschwinden sammelte? Wenn sie jetzt fortginge, würde sie niemals erfahren, wie sie alle zusammenpassten. »Ich will hier nicht weg. Und ich komme doch im Dezember nach Hause. Es ist gar nicht mehr so lange bis dahin.«
Ihre Mutter seufzte. »Mein Liebes, ich versteh dich ja. Ich dachte nur, ich versuche es mal.« Sie schwieg. »Ich vermisse dich.«
Der Schmerz in ihrer Stimme versetzte Vanessa einen Stich. »Ich vermisse dich auch, Mom.« Und das war nicht mal gelogen.
Die Umkleide war dunkel, als Vanessa hineinstürmte und die Tür hinter sich zuschlug. Sie war plötzlich wütend, dass ihre Mutter die Schwindelattacken erwähnt hatte. Das Summen der Neonlampen an der Decke durchbrach die Stille. Sie warf ihre Tasche auf die Eckbank und rüttelte an der Tür zu ihrem Spind. Aus irgendeinem Grund ließ sie sich nicht öffnen, und sie trat ärgerlich mit dem Fuß dagegen. Von dem heftigen Tritt tat ihr Fuß weh, doch die Tür sprang auf, und der ganze Inhalt des Schrankes fiel heraus.
Vanessa rieb sich ihren Fuß, der von den täglichen Übungen und Proben schon voller Blasen war und ohnehin höllisch wehtat. Vorsichtig zog sie ihren Schuh aus. Ihre Zehen waren mit Mull bandagiert und die Haut rundherum rissig und voller Schwielen. Sie beugte und streckte den Fuß und verzog vor Schmerz das Gesicht. Eine Schere lag zwischen ihren Sachen auf dem Boden. Das Metall fühlte sich auf ihrer Haut kühl an, als sie die Verbände aufschnitt und herunterschälte.
Sie hörte immer noch die Stimme ihrer Mutter, als sie den ersten Verband abzog.
Wir können dein Zimmer wieder genauso einrichten
wie vorher.
Sie keuchte vor Schmerz. An ihren Gelenken sah sie rote Stellen, wo die Haut Blasen bildete.
Sie riss den nächsten Verband
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