Dann fressen sie die Raben
Alte. Er muss noch einen Tag dortbleiben, dann darf er nach Hause.« Sie mustert mich genauer. »Aber du bist so bleich, als hättest du gerade einen Geist gesehen.« Sie schlägt sich mit der Hand auf den Mund. »Oh, das war unpassend, deine Schwester ist ja gerade erst gestorben, der Hausmeister hat es mir erzählt. Entschuldigung. Wann ist denn die Beerdigung?«
Ich versichere ihr, dass ich Bescheid geben werde, sobald ich den Termin kenne. Dann verabschieden wir uns und ich gehe hoch in Olivers Wohnung. Auf halbem Weg kehre ich wieder um und renne Frau Vogel hinterher.
»Warten Sie, ich möchte Sie etwas fragen.«
Sie dreht sich zu mir um und bleibt stehen.
Ich hole noch ganz außer Atem das Foto mit dem Schwarzen aus meiner Tasche und frage sie, ob das der Mann ist, der an ihrer Tür geklingelt hat.
Sie schaut sich das Bild lange an. »Der junge Mann sieht tot aus.«
»Ist es der, der bei Ihnen geklingelt hat?«
»Es könnte sein.« Sie schaut mich ratlos an. »Aber sicher bin ich nicht. Weißt du, er hatte die Kapuze bis über die Stirn gezogen und außerdem habe ich ihn ja nur durch den Spion gesehen.«
»Danke trotzdem.«
»Tut mir wirklich leid, ich muss jetzt los.« Sie zuckt bedauernd mit den Schultern, geht weiter und ich laufe zurück zur Wohnung.
Mam sitzt mit versteinerter Miene am Esstisch. Als sie mich sieht, steht sie auf und kommt mir entgegen. Oh Gott, sie wird mir doch keinen Vortrag darüber halten, dass ich trotz allem, was passiert ist, in die Schule gehen soll?
»Was fändest du denn für deine Schwester das Richtige?«, fragt sie hastig, ohne mich zu begrüßen. »Beerdigung oder Einäscherung?«
Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll, weil sie mich so überrumpelt hat. Als ich dann darüber nachdenke, finde ich es gruselig, dass Lina von Würmern zernagt werden soll. Andererseits ist es genauso schlimm, wenn sie verbrannt wird.
»Sie ist tot«, antworte ich schließlich. »Ich glaube, ihr wäre es egal.«
»Oliver will, dass wir sie einäschern. Er findet, wir sollten nicht so viel Geld für eine Beerdigung vergeuden, sondern das Geld lieber den Kindern in Guatemala spenden, wo Lina so gern hinwollte.«
Das passt doch wieder prima ins Bild. Wenn Lina erst mal verbrannt ist, kann man überhaupt nichts mehr nachweisen. Dann ist ihr Mörder für immer aus dem Schneider. Also muss ich dafür sorgen, dass das nicht passiert.
»Was Oliver sagt, klingt natürlich vernünftig.« Ich schüttle trotzdem den Kopf. »Aber ich fände es viel besser, wenn sie in einem schönen Sarg mit Blumen begraben wird.«
Mam schnieft ein paarmal und drückt mich an sich. »Dann rede du mit deinem Vater und ich mit Oliver.«
»Pa will auch keine richtige Beerdigung?«
»Er behauptet, er hätte mit Lina mal darüber gesprochen und sie hätte da ganz entschiedene Ansichten gehabt.«
»Mit Lina gesprochen? Aber sie haben sich im letzten Jahr gar nicht gesehen.«
Mam schüttelt den Kopf. »Schätzchen, dein Vater hat sich doch alle zwei Wochen mit Lina in München getroffen.«
Das haut mich um, aber ich nehme mich sofort zusammen. Mam soll nicht wissen, dass ich davon keine Ahnung hatte. Warum hat er mir das nie erzählt?
Ich murmele etwas vor mich hin und fühle mich von meinem Vater verraten. Wieso hat er sich heimlich mit Lina getroffen? Aber ich schätze mal, ich kenne die Antwort. Er wollte keinen Streit mit mir, er hasst jede Art von Streit. Zum ersten Mal finde ich das nicht diplomatisch, sondern nur noch ziemlich armselig.
Ich frage Mam nach einer Lupe, überlege kurz, ob ich ihr das Foto auch zeigen soll, aber sie sieht so verzweifelt aus, dass ich es lieber lasse. Sie holt mir die Lupe aus dem großen Badezimmer. »Für Splitter. Dieser Holzboden hier hat es in sich, das kannst du mir glauben. Lina hatte einmal …« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Hier.« Sie gibt mir die Lupe und geht dann schnell in ihr Schlafzimmer. Ich bleibe unschlüssig stehen, weiß nicht, ob ich ihr folgen und sie trösten oder mir mit der Lupe das Foto genauer vornehmen soll. Da fällt Mams Schlafzimmertür mit einem Knall ins Schloss und das nimmt mir die Entscheidung ab.
Ich setze mich an Linas Schreibtisch, hole das Foto aus der Jacke, die ich immer noch nicht ausgezogen habe, und lege es vor mich auf den Tisch.
Es ist furchtbar, wie viele Details man mit der Lupe erkennen kann. Plötzlich erzählt das Foto eine Geschichte. Ich fange bei den Füßen des Toten an, weil ich das weit
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