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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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nicht schlau aus ihr. Und auch sein Herz gibt ihm neuerdings Rätsel auf. Wenn er sie ansieht, schrumpfen die bösen Racheflammen in seinem Herzen zu einem wärmenden Feuerchen.
    Das Kind mit dem Ölzeug ist endlich von oben bis unten voller Matsch und seine Mutter will gehen. Der Kleine trampelt wütend auf den Sandkuchen herum, die er gebacken hat, wirft sich in den Matsch, doch als die Mutter nicht weiter reagiert, folgt er ihr brav.
    Jetzt ist der Moment gekommen, denkt er und verlässt seine Deckung. Langsam geht er auf sie zu, überlegt ein letztes Mal, was er zu ihr sagen wird.
    Ihre Blicke begegnen sich. Sie reißt entsetzt ihre wunderschönen großen Augen auf, blaugrün wie der Sambesi in der Sonne. Doch da verfärbt sich ihr Gesicht schlagartig elefantengrau, sie springt auf und rennt davon, als wären die Teufel hinter ihr her.
    Er darf auf keinen Fall Aufsehen erregen und sie offen verfolgen. Deshalb spurtet er zurück in seine Deckung und es dauert einen Moment, bis ihm klar wird, was gerade passiert ist.

14. Kapitel
    Erst als ich schon fast an der Mainzerstraße bin, werde ich ruhiger und frage mich, ob ich langsam verrückt werde. Schließlich habe ich gerade einen Geist gesehen. Ich bin ganz sicher, dass ich eben dem toten Typen von dem Foto begegnet bin. Aus dem Nichts ist er aus dem Regen aufgetaucht, wie ein Geist stand er plötzlich vor mir. Ich ringe nach Luft, während ich weitergehe, und überlege, was für Erklärungen es dafür gibt. Leider ist die wahrscheinlichste entweder die, dass ich afrikanische Gesichter nicht auseinanderhalten kann, oder die, dass ich einen Tagtraum hatte. Einen Tagalbtraum.
    Nach dem, was Oliver mir an den Kopf geworfen hat, konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Am frühen Morgen habe ich dann schließlich Feli angerufen und ihr erzählt, dass Lina gestorben ist. Sie wusste sofort, wie schrecklich es für mich ist, dass wir uns nicht mehr richtig versöhnen konnten. Vor ihr habe ich dann meinen Verdacht zum ersten Mal wirklich laut ausgesprochen: Lina wurde ermordet. Felis Entsetzen hat mein mulmiges Gefühl im Bauch noch verstärkt. Und weil Feli mit keiner Silbe an meiner Einschätzung gezweifelt hat und voller Besorgnis war, habe ich ihr das mit dem Foto und dem Stoß in der U-Bahn verschwiegen. Ich möchte nicht, dass Feli vor Sorge um mich durchdreht.
    Nach unserem Telefonat ging es mir etwas besser, aber als ich dann in die Küche kam und die Mienen von Mam und Pa gesehen habe, musste ich wieder raus aus der Wohnung.
    Bevor ich in den Hinterhof einbiege, schaue ich mich noch einmal nach dem Schwarzen um, entdecke aber niemanden. Also doch eine Projektion meines kranken Geistes. Was wollte ich auch im strömenden Regen auf diesem trostlosen Spielplatz? Wollte ich mich, wie Oliver es nennen würde, nur weiter bemitleiden?
    Auf dem Spielplatz war alles nass und es war kalt, selbst für März, aber als ich die Schaukeln gesehen habe, konnte ich nicht anders, ich musste mich auf eine setzen. Lina hat Schaukeln geliebt oder vielmehr hat sie das Risiko geliebt. Immer, wenn sie den höchsten Punkt erreicht hat, ist sie gesprungen, sehr zum Entsetzen von Mama. Aber sie hat sich nie wehgetan. In Nusstal, zu der Zeit, als wir das Haus noch als Wochenendhaus benutzt haben, hat Pa uns eine wunderschöne Baumschaukel gebaut. Sie hängt auch heute noch an dem dicken Ast der Silberpappel neben dem Bach, aber auf der wird meine Schwester nie mehr schaukeln.
    Oliver hat recht. Es war grausam von mir, Lina nicht zu verzeihen, traurig und kleinlich und lächerlich. Schließlich hat sie Merlin nicht dazu gezwungen, mich zu verlassen.
    Aber was – der Gedanke schleicht sich in meinen Kopf – wenn das Ganze von Oliver nur ein gigantisches Ablenkungsmanöver war? Wenn er genau das erreichen wollte, dass ich einfach nicht mehr sicher bin, was ich glauben soll?
    Als ich in den Hof einbiege, treffe ich Frau Vogel, aber von Napoleon entdecke ich keine Spur. Ihr Gesicht ist fast so graugrün wie ihr Wollmantel, sie wirkt so zerknittert auf mich, als hätte sie in ihren Sachen geschlafen. Sofort sehe ich den Hund wieder regungslos vor mir liegen, wie tot. Aber als sie näher kommt, lächelt sie mich glücklich an und streckt ihre Hand aus, um meine zu schütteln. »Kindchen, ich danke dir noch mal, dass du mir gestern mit Leon geholfen hast. Es war sehr gut, dass wir zum Arzt gefahren sind. Er hat ihm ein Brechmittel verabreicht und danach war mein geliebter General fast wieder der

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