Dann fressen sie die Raben
hier überall rum? Kann sich da jeder bedienen wie mit Smarties?«
Er fährt sich durch seine Haare und schüttelt den Kopf. »Ruby, beruhige dich. Du bist emotional sehr labil, das ist ganz natürlich. Am besten gehst du ins Bett. Ich kann dir eine Tablette geben.«
Jetzt, denke ich. Jetzt oder nie! Sprich es endlich aus!
»Hast du Lina missbraucht und dann getötet?«
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, vielleicht dass er aufspringt, herumschreit, brüllt, alles, aber nicht das. Er schrumpft vor meinen Augen wie ein Wurm, auf den man versehentlich getreten ist, legt seine Hände vor sein Gesicht und dann beginnt er zu weinen. Es hört sich furchtbar an, keuchend, abgehackt.
Was hat das zu bedeuten, ist das ein Schuldeingeständnis?
Schließlich gibt er sich einen Ruck und richtet sich wieder auf. »Ich habe deine Schwester geliebt.«
Oh Gott!
»Wie ein Kind. Ich verstehe nicht, wie irgendjemand auf der Welt auf die Idee kommen kann, dass ich diesem Kind etwas antun könnte. Ich bin Arzt«, jetzt wird er lauter und steht auf. »Ich bin Arzt und habe einen heiligen Eid geschworen, dass ich Menschenleben rette und nicht, dass ich Menschen töte.« Seine Wut lässt ihn noch größer werden, als er ohnehin schon ist, er kommt immer näher und steht dann direkt vor mir wie ein aufgebrachter Riese.
»Es ist schlimm genug, dass Lina unter meinen Händen weggestorben ist, entsetzlich für uns alle, aber deine Anschuldigungen ätzen sich wie Essig in meine Wunden. Hast du denn nicht das kleinste bisschen Respekt vor dem Schmerz anderer Menschen? Kannst du nur an dich denken? Lina hat sich so danach gesehnt, Frieden mit dir zu schließen. Aber du hast sie immer und immer wieder zurückgestoßen wegen eines einzigen lächerlichen Fehlers, den sie in deinen rachsüchtigen Augen begangen hatte. Wie kannst du es wagen, herzukommen und mit solch abartigen Verdächtigungen um dich zu werfen? Wie kannst du dich erdreisten, in so einem Moment einfach zu verschwinden und deinen Eltern noch mehr Schmerzen zuzufügen? Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der ein so winziges selbstsüchtiges Herz hat. Nirgends auf der Welt, nicht einmal im Kongo! Geh mir aus den Augen, du machst mich krank!« Er stößt mich weg und läuft in sein Schlafzimmer.
Mein Puls hämmert in den Ohren und ich merke, dass meine Beine zittern. Ich habe Angst gehabt, dass er mich schlagen würde. Und irgendwie hat er mich ja auch geschlagen, nein, nicht nur das, er hat mir gleich einen ganzen Pfahl durch mein Herz gestoßen.
VI
Sie möchten wohl dem Feuer entrinnen, doch sie werden nicht daraus entrinnen können, und ihre Pein wird immerwährend sein.
((5:37))
Der leichte, aber beständige Nieselregen hat sein Sweatshirt längst durchweicht, läuft hinten in seinen Nacken und seine Füße schwimmen in den Stoffturnschuhen. Jeder Schritt ein quatschendes Geräusch. So kann er nicht weiter hinter ihr herschleichen. Vielleicht ist es ein Zeichen von Kimoni, dass er endlich mit ihr reden soll.
Sie wirkt ganz anders als in den letzten Tagen, wie betäubt sitzt sie seit Stunden auf dieser Schaukel.
Vor einer Ewigkeit schon hatte er sich dazu durchgerungen, sie anzusprechen, aber genau in dem Moment kam eine Frau mit einem kleinen Kind in gelbem Ölzeug und stürmte den Sandkasten, sodass er sich wieder in seine Deckung hinter die alte Kastanie zurückziehen musste.
Sie reagiert überhaupt nicht auf die Neuankömmlinge, sitzt immer noch auf dem schwarzen Gummireifen, schaukelt nicht, bewegt sich nicht, weint nicht, sitzt nur da.
Bisher hatte er noch nicht die Gelegenheit, ihr Gesicht so nah und im vollen Licht zu sehen. Unfassbar, dass sie die Schwester von Lina sein soll. So bleich, als hätte man alles Blut aus ihr gesogen, und so dünn, dass ihre Beine ihn an die einer Gazelle erinnern. Er hätte sie kilometerweit tragen können. Ihre schmalen Handgelenke umklammern die dicken Eisenketten der Schaukel wie einen Rettungsring. Ihr blondes Haar hängt ungekämmt weit über den Schultern, es ist nass und sieht viel zu schwer aus für ihren zarten Kopf. Ein Teil von ihm möchte zu ihr gehen und sie trösten, auch wenn es keinen Trost gibt. Doch der andere Teil warnt ihn. Gestern, nach der Sache in der U-Bahn, war er für kurze Zeit sicher, dass sie nicht dazugehört. Deshalb hatte er spontan reagiert.
Aber dann, als sie mitten in der Nacht auf der Straße aufgetaucht war, war er sich nicht mehr so sicher gewesen. Was hat sie dort gesucht?
Er wird
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