Dann fressen sie die Raben
aufgerissene Auge lieber nicht aus dieser Nähe betrachten möchte. Der Junge trägt Leinenschuhe in einer undefinierbaren Farbe, die Sohlen sind so abgelaufen, dass ich schon Löcher entdecke. Der Boden sieht aus wie grauer Beton mit Ölspuren darin, jedenfalls der Teil, der nicht mit Blut bedeckt ist. Neben seinen Füßen ist eine kleine Wasserpfütze.
Ich wende mich jetzt noch mehr dem Jungen zu, betrachte die blaue zerschlissene Jeans, die mit einem zerfledderten Gürtel zusammengehalten wird. Dann nehme ich die lange Narbe unter die Lupe. Sie kommt aus der Hose hervor und windet sich seitlich weiter hoch bis über die Taillenrückseite. So deutlich vergrößert erkennt man, wie entsetzlich sie aussieht, als hätte ein Metzger die Hautfetzen zusammengenäht. Hellbraune Verwachsungen mit leuchtend roten Stellen darin und alles ist so zerklüftet wie die Alpen auf dreidimensionalen Landkarten. Ich muss mich zwingen, weiter hinzuschauen. Was kann solche Narben verursachen?
Ich schwenke die Lupe höher. Seine Brust ist trotz der Narbe durchtrainiert wie die eines Leistungssportlers und auch seine Arme sind sehr muskulös. Weil ich es noch nicht schaffe, mich seinen Augen zu stellen, schaue ich mir die Arme genau an bis hin zu den Fingerspitzen.
Eine Hand ist zusammengeballt, zwischen den Fingern glitzert etwas. Ich hebe das Bild hoch und halte die Lupe ganz dicht darüber. Es ist eine Kette, die weiter unten fast von der Blutlache verdeckt wird. Ich brauche mehr Licht!
Ich knipse die Schreibtischlampe an, ziehe sie näher zu mir her und leuchte direkt auf das Foto. Es scheint ein Anhänger zu sein, leider sehe ich nur einen Teil davon. Ich erkenne gerade mal ein Stück von einem Kreis, darunter wieder ein Bogen. Dazwischen ist Luft. Etwas an diesem Gebilde kommt mir bekannt vor, mein Magen zieht sich wie elektrisiert zusammen. Eine Spur, da bin ich sicher, aber, verdammt noch mal, was für eine?
Ich hole mir ein Blatt Papier und einen Stift und male das winzige Stück ab, das ich erkennen kann. Ein Yin- und Yangzeichen? Nein, das passt nicht zu der zweiten Linie. Ich male einen ganzen Kreis und dann dieses Stück Innenlinie. Vielleicht muss ich es drehen? Ich drehe es und dann stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Ich renne zu meiner Schultasche und hole den Zettel mit den schraffierten Symbolen heraus, die Lina von ihrem Tisch weggekratzt hat. Als ich ihn neben das Foto halte, erkenne ich genau die Übereinstimmungen.
Es ist das @-Zeichen.
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Warum hat dieser ermordete Afrikaner ein @-Zeichen in der Hand und Lina kratzt es von ihrem Pult weg?
Ich denke an den Äskulapstab. Medizin. Ärzte.
Dann schaue ich wieder auf die Narbe.
Langsam dämmert mir etwas, aber das wäre ungeheuerlich. Unfassbar. Ich betrachte die Narbe noch einmal ganz genau, um mich zu vergewissern. Kann das vielleicht die Narbe einer Nierenoperation sein? Ich erinnere mich dunkel an John Lockes Narbe in Lost – war die nicht auch auf dem Rücken?
Um sicherzugehen, müsste ich einen Arzt fragen, aber der einzige Arzt, den ich kenne, könnte ein Schenk sein. Könnte darin verwickelt sein.
Nein, Ruby, du spinnst! Du kannst dir doch nicht ständig neue und immer wüstere Verdächtigungen ausmalen. Gestern noch hast du gedacht, Oliver hätte seine Stieftochter missbraucht, und jetzt denkst du an so etwas!
Aber der Gedanke lässt mich nicht mehr los, denn alles passt perfekt zusammen. Olivers Arbeit für Ärzte ohne Grenzen, sein Job im Krankenhaus.
Organhandel.
Etwas ist schiefgelaufen, Lina hat ihn dabei erwischt und deshalb musste sie sterben.
Ich brauche sofort Zugang zum Internet oder einen Verbündeten. Am besten sogar beides. Ich könnte Mams Laptop benutzen, aber das will ich dann doch nicht. Nicht, bevor ich nicht sicher bin.
Alex hat mir angeboten, dass ich seinen Computer benutzen kann. Alex, den ich das letzte Mal gesehen habe, als ich vor ihm im Luitpoldpark in die U-Bahn geflüchtet bin.
Was ist, wenn er mit drinhängt? Aber dann erinnere ich mich daran, wie sich die beiden neben Linas Bett gestritten haben und wie er zusammengezuckt ist, als sein Vater ihm über die Haare gestreichelt hat.
Andererseits war da dieses schwarze Auto gestern Abend. Es könnte Alex gehört haben. Soweit ich weiß, fährt er einen schwarzen BMW, aber in München fahren ja offensichtlich eine Menge Leute schwarze BMWs.
Egal, ich muss der Sache auf den Grund gehen. Und wenn ich bei Alex ins Internet gehe, kann
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