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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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wendet sich der Gazelle zu, befreit ihre Nase, schält den Matsch von ihrem Mund und versucht, ihr wieder Leben einzuhauchen. Immer wieder berührt er ihren Mund und atmet in ihren Körper, schüttelt sie leicht, will, dass sie zu sich kommt.
    Dann gibt es nur noch ihren Mund und seinen Atem. Er glaubt nicht mehr an einen Gott, aber jetzt betet er doch darum, dass sie wieder aufwacht. Das alles muss ein Ende haben.
    Als sie endlich die Augen aufschlägt und ihn verwundert anschaut, zerbricht etwas in ihm und er möchte ihr sagen, wie leid ihm das alles tut. Da flackern ihre Augen, als ob sie ihn wiederkennen würde, und dann schrumpfen sie und werden klein vor Entsetzen. Er kennt diesen Blick.
    Doch bevor auch nur ein Wort der Erklärung aus seiner Kehle dringen kann, dass nicht er es war, der sie überfallen hat, packt ihn jemand am Kragen und zerrt ihn weg. Es ist nicht Amari, das riecht er sofort, es ist ein dicker Fremder, der ihn wütend von der Gazelle wegprügelt. »Was ist hier los? Verdammtes Ausländerpack!«
    Er windet sich, tritt nach dem Mann, der lässt ihn für einen Moment los.
    Er nutzt seine Chance und rennt davon.
    Die Gazelle lebt, das ist das Wichtigste.
    Und der dicke weiße fremde Mann wird es niemals schaffen, ihn einzuholen.

17. Kapitel
    Sie haben mich mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht, nicht ins Elisabethenstift, sondern ins Klinikum nach Bogenhausen. Martin Bolzern, der Mann, der mich gerettet hat, hat die Polizei gerufen und den Krankenwagen. Er ist davon überzeugt, dass ich vergewaltigt und erstochen worden wäre, wenn er nicht so mutig dazwischengegangen wäre.
    Ich bin völlig verwirrt. Zum Glück ist es Pa, der gleich gekommen ist, und nicht Mam. Ich klammere mich an ihn, weil ich mich fühle, als wäre ich ein Stück Würfelzucker, das jeden Moment in kleine Kristalle zerfallen kann.
    Als Pa gehört hat, dass ich von einem Schwarzen überfallen worden bin, hat er darauf bestanden, Frau Koslowsky zu informieren. Er ist davon überzeugt, dass das irgendwie mit dem Foto zusammenhängt, und jetzt stehen die beiden vor mir. Frau Koslowsky hat die anderen Beamten weggeschickt. Sie will, dass ich erzähle, was passiert ist. Aber ich erinnere mich nicht mehr richtig. Ich weiß, ich bin aus der Pizzeria gelaufen. Dann war da dieser dunkle, ewig lange Häuserdurchgang und zum Schluss die U-Bahn. Dort bin ich in den Matsch gefallen, der Matsch war überall und ich habe keine Luft mehr bekommen, konnte den Kopf nicht heben, weil jemand mich fest nach unten gedrückt hat. Als ich wieder zu mir gekommen bin, lag ich im Arm eines Schwarzen, der genauso aussah wie der Tote auf dem Foto, das Alex zerrissen und aus dem Fenster geworfen hat.
    »Alex«, murmele ich, »Alex …«
    Pa und Frau Koslowsky schauen sich überrascht an.
    »Heißt der Schwarze Alex?«, fragt Frau Koslowsky und zückt ihren Block.
    »Nein«, ich schüttele den Kopf, höre aber sofort damit auf, weil mein Kopf in tausend Stiche explodiert. Was wollte ich gerade sagen? Ich erinnere mich nicht.
    »Es wäre wirklich gut, wenn du noch eine Nacht zur Beobachtung hier bleibst.« Pa sieht fürchterlich aus, er kommt mir alt vor, tausend Jahre alt. Tiefe Falten zerschneiden sein Gesicht in lange Stücke, unter seinen Augen sind dunkelviolette Ringe und die Augäpfel voller rot geplatzter Äderchen.
    »Ich will aber lieber nach Hause.« Während ich das sage, dämmert mir, dass mein Zuhause im Moment die Wohnung von Mam und Oliver ist. Trotzdem, ich will nicht hier bleiben.
    »Ich glaube, in der Wohnung fühle ich mich sicherer.«
    »Wir müssen noch deine Anzeige aufnehmen.« Frau Koslowsky sieht schwer genervt aus.
    »Anzeige? Aber warum?«
    »Du wurdest nach deiner eigenen Angabe und der des Zeugen überfallen und ausgeraubt. Da erstattet man für gewöhnlich Anzeige gegen Unbekannt. Oder gegen den Täter, wenn man ihn kennt. Und du musst eine Aussage machen. Konntest du denn jemanden erkennen?«
    Ich sehe von einem zum anderen. »Es war der Tote vom Foto.«
    Frau Koslowsky und Pa schauen sich abermals an, sie stöhnt leise und lässt ihre Hand mit dem Block wieder fallen.
    »Und wo ist das Foto?«, fragt sie.
    »Es ist alles weg, was in ihrem Rucksack war«, mischt sich Pa ein und lächelt mir beruhigend zu.
    »Gut, dass ich eine Kopie davon habe«, sagt die Polizeibeamtin, holt sie aus ihrer Tasche und hält mir das Foto vor die Nase.
    Als ich wieder die weit aufgerissenen Augen sehe, die genauso aussehen wie die, die mich so

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