Dann fressen sie die Raben
ich sage es trotzdem. Weil es die Wahrheit ist. »Ich weiß, wie sich das anfühlt. Das Gleiche hat sie mit mir auch gemacht. Weißt du denn, warum sie sich von Dennis getrennt hat? Und hat sie danach einen neuen Freund gehabt?«
In diesem Moment wird unsere autoreifengroße Pizza von Gretchens Vater höchstpersönlich serviert. Er lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und die Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen macht sein Lachen sehr sympathisch. Doch als Gretchen uns vorstellt und ihm erklärt, dass ich Linas Schwester bin, verebbt sein Lachen ganz plötzlich, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Er wirft seiner Tochter einen missbilligenden Blick zu, dem sie kaum standhalten kann, knallt die Pizza vor sie hin und verlässt uns kopfschüttelnd wieder.
Obwohl mich das völlig durcheinandergebracht hat, merke ich doch, wie intensiv es nach Knoblauch und frischem Teig duftet. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich verspüre plötzlich doch großen Hunger.
»Was war das denn jetzt?«
Gretchen zuckt mit den Schultern, säbelt exakt ein Achtel Pizza ab, rollt das Stück zusammen und beißt hinein. »Er mag Dennis. Und ich hab ihm erzählt, was Lina Schäbiges getan hat.«
»Und warum schaut er mich dann so an? Ich bin schließlich nicht Lina.«
»Keine Ahnung, Väter halt!«
Wir essen eine Weile schweigend, bis ich es einfach nicht mehr aushalte. »Bitte, Gretchen, ich muss das wissen. Weshalb hat ihm Lina nach so kurzer Zeit schon den Laufpass gegeben?«
»Ich habe keine Ahnung. Frag ihn doch. Vielleicht war sie ja auf euren Stiefbruder scharf?« Sie lehnt sich zurück. »Wer weiß schon, was deine Schwester angeturnt hat? Lina war wirklich ziemlich dreist. Nachdem sie unsere Freundschaft verraten hat, wollte sie auch noch, dass ich mich von Dennis fernhalte.«
»Hat sie gesagt, warum?«
»Nein, aber das ist doch ganz klar. Sie hat sich eingebildet, dass sie alle um sich herum manipulieren könnte.«
Gretchens Vater kommt zu uns, tippt auf seine dicke goldene Armbanduhr und erinnert Gretchen daran, dass sie ab jetzt Schicht hat.
»Und ein neuer Freund?«, frage ich hastig, als sie schon aufsteht.
»Niemand, von dem ich wüsste«, erwidert Gretchen. Sie bringt mich zur Tür.
»Können wir uns vielleicht noch mal auf einen Kaffee treffen?«, frage ich sie, bevor ich nach draußen gehe.
Sie hebt abwehrend ihre Hände. »Ich will nicht unhöflich klingen und es ist wirklich furchtbar, was mit Lina passiert ist, aber ganz ehrlich, ich wüsste nicht, worüber wir noch reden sollten. Außerdem gehst du doch sowieso bald ins Allgäu zurück, oder?«
Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber sie hat recht. Natürlich werden Pa und ich wieder zurückgehen, spätestens nach Linas Beerdigung, den Termin dafür haben sie sicher heute mit dem Bestatter festgelegt, gleich nachdem sie sich für einen Sarg entschieden haben.
Das bedeutet, ich muss vorher noch herausfinden, wer Lina auf dem Gewissen hat.
Ein Bild von Lina schiebt sich vor mein inneres Auge, ein Bild, in dem sie wie eine wächserne Puppe in einem dunkel polierten Eichensarg liegt, der mit weißen Spitzenkissen aus glänzendem Satin ausgekleidet ist – und dann plötzlich stürzen Dreckklumpen auf sie herab, geworfen von unsichtbaren Händen.
Ein Kellner bringt mir meine Jeansjacke hinterher, die ich völlig vergessen habe, geistesabwesend nehme ich sie entgegen.
Anscheinend sehe ich fürchterlich aus, denn Gretchen fragt mich, ob mir schlecht geworden ist.
»Nein, es geht schon, ich musste nur gerade an Lina denken.« Mir schießen Tränen in die Augen, plötzlich möchte ich am liebsten meine Arme um Gretchen schlingen und hemmungslos weinen. Ich muss verrückt sein.
Also drehe ich mich reichlich abrupt um, presse noch ein kurzes »Tschüss« hervor und stürze aus der Tür hinaus in die Dämmerung, während Tränen aus meinen Augen fallen, als hätte ich eben erst erfahren, dass meine Schwester gestorben ist. Ich laufe mit blinden Augen weiter, immer schneller, bis mir die Luft ausgeht. Lina wird nie mehr jemandem den Freund ausspannen, aber sie wird auch nie mehr Witze machen. Nie mehr. Mir kommt es so vor, als würde ich jetzt erst kapieren, was das Wort Nie wirklich bedeutet. Nie, nie, nie.
Ich setze mich auf eine schlammige Bordsteinkante und versuche, mich zu beruhigen.
Erst nach einer Weile merke ich, wie kalt mir ist. Ich hab noch nicht einmal meine Jacke angezogen. Das hole ich nun nach und wische mir mit
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