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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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Hass seine Adern aufpumpt, seine Lungen überschwemmt und ihn zu ersticken droht.
    Statt der Stimme zu antworten, betrachtet ihn die Gazelle. Ihre Augen gleiten über seinen Körper, weiten sich und sie wendet sich schockiert von ihm ab. Sie hat seine Narben entdeckt. Er will kein Mitleid. Er braucht kein Mitleid.
    »Hey, Ruby, bist du taub?«, brüllt die Stimme. »Warum antwortest du nicht? Bist du immer noch sauer wegen gestern?« Er hämmert an die Tür.
    Johns Muskeln spannen sich an, er wird nicht länger nackt hier herumstehen, er wird ihn einfach niederprügeln und diese Wohnung verlassen. Wütend steigt er aus der Dusche und trocknet sich ab, so schnell er kann. Wie dumm, der Gazelle zu vertrauen!
    »Nein, komm nicht rein!« Sie klingt hilflos.
    Er möchte die Gazelle packen und schütteln. Weiß sie denn nicht, dass man so schwach nicht mit ihm reden kann? So wird er in zwei Sekunden hier drinstehen. Er bindet das Handtuch um seine Hüften und bückt sich nach den Kleidern am Boden, räumt schnell seine Taschen aus und packt hastig seine wenigen Besitztümer in die Taschen der Jogginghose.
    »Ich glaube, das ist kein Anblick für dich«, ruft sie. »Ich …«
    Er kann sehen, wie es in ihr arbeitet, ihre zerkratzte Stirn legt sich in Falten und sie neigt den Kopf mit den blauen Flecken und Schwellungen und Hautrissen, als wäre die Last ihrer Gedanken zu schwer für ihren zarten Hals. Plötzlich verraucht seine Wut und er möchte sie beschützen, ihr helfen. Sie hat keine Ahnung.
    Doch zuerst muss er sich bedecken. Er findet Boxershorts in dem Bündel, zieht sie an und darüber eine dunkelgraue Jogginghose. Alles ist ein wenig eng, aber sauber.
    Da, jetzt zwinkert sie ihm mit dem nicht geschwollenen Auge erleichtert zu. »Ich habe meine Tage«, sagt sie und klingt wie eine weinende Hyäne. »Glaub mir, das willst du nicht sehen. Vor allem nicht nach dem, was mir gestern passiert ist.«
    »Hmm. Na gut, dann eben nicht.« Längere Stille auf der anderen Seite der Tür, dann fragt er doch misstrauisch nach. »Kommt das echt so plötzlich, dass du einfach losrennst und nicht mal mehr den Kühlschrank zumachst? Oder hast du etwa so etwas wie Menstruationsalzheimer?«
    Er wiederholt dieses Wort mehrfach, ein Wort, das John ganz sicher noch nie gehört hat. Es muss ein starkes Wort sein, denn es hält die Stimme draußen.
    »Kannst du den Kühlschrank für mich zumachen? Wie sich die Sache gerade anlässt, muss ich wohl noch ein Weilchen hier drinbleiben.«
    »Wieso das denn?«
    Die Gazelle wedelt hilflos mit ihren Händen durch die Luft, sie sucht offensichtlich nach einer Antwort. Ihre Blicke treffen sich. Trotz ihrer Verletzungen schimmern die Augen wieder blaugrün wie der Sambesi in der Sonne. Kimoni kommt ihm in den Sinn, Kimoni würde sie auch schön finden.
    »Äh«, stottert die Sambesigazelle, »äh, ich, na ja, weißt du, das ist mir ein bisschen peinlich. Ich hab keine Tampons mehr und bräuchte einen Pack extrastark. Ist alles wegen der Sache mit Lina etwas durcheinander, glaub ich. Könntest du mir bitte welche aus dem dm holen? Ich kann hier so nicht weg.«
    »Muss das sein? Hey, also ehrlich, hat denn deine Mutter nichts da?«
    »Die ist doch schon zu alt für so was. Bitte!«
    »Ich bin kein Frauenversteher, echt nicht.« Die Stimme schweigt eine Weile. »Na gut, aber dafür schuldest du mir was. Und wenn das jemals jemand erfährt, dann bringe ich dich um.«
    »Danke.«
    Ein Lächeln entspannt ihr lädiertes Gesicht und leichtes Flamingorosa verdrängt das Elefantengrau ihrer Haut. Sie wendet sich ihm wieder zu und hält beide Daumen hoch. Einen Moment später hört er, wie die Haustür ins Schloss fällt.
    »Los jetzt!«, zischt sie. »Warte unten beim Spielplatz auf mich, bei den Schaukeln, okay?«
    Er nickt. Ja, das wird gehen. Dort kennt er sich aus, da kann er sich in der Zwischenzeit gut verstecken.
    »Ich komme so schnell wie möglich nach. Obwohl …«, sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. »Pa wird gleich zurück sein.« Sie denkt nach. »Egal, ich versuche, einen Weg zu finden.«
    Sie öffnet die Tür und ist schon halb draußen, doch dann dreht sie sich noch einmal um und umarmt ihn fest.
    Verblüfft starrt er auf ihren Scheitel. Warum tut sie das? Sie ist ihm ein Rätsel. Aber sein Körper reagiert sofort und presst sich noch fester an sie, obwohl der Puls in seinem Schädel fortwährend Alarm, Alarm, Alarm hämmert. Sie fühlt sich so zart an, er könnte sie zerquetschen, aber das

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