Dann fressen sie die Raben
überhaupt etwas gegessen hat. Plötzlich fällt mir die Frau mit den Tüten in der U-Bahn-Station ein. Hat die nicht gesagt, ein Schwarzer hätte mich gerettet? War das etwa auch John gewesen?
»John, komm rein.« Ich muss ihn förmlich in die Wohnung drängen. Ich überlege, ob es ihn beleidigt, wenn ich ihn frage, ob er kurz duschen möchte, und dann überschlage ich, ob die Zeit reicht, bis Pa zurück ist. Es müsste klappen. Soweit ich mich erinnern kann, ist es nicht erlaubt, mit dem Auto zum chinesischen Turm zu fahren, das heißt, er muss ein paar Schritte gehen, außerdem wird er mich überall suchen.
»Möchtest du vielleicht duschen und danach die neuen Kleider anziehen? Ich mach uns in der Zwischenzeit ein paar Brote und dann hauen wir ab.«
Seine Augen blitzen auf, doch er schüttelt den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Ich kann hier auf keinen Fall bleiben.«
Ich bin schon versucht, »Unsinn« zu sagen, als mir klar wird, wie beleidigend das wäre. Ich weiß schließlich nichts über ihn, und wenn er mir wirklich das Leben gerettet hat und mir dabei helfen kann, Linas Mörder zu finden, dann muss ich ihm vertrauen. Was bedeutet, dass ich seine Wünsche respektieren muss.
»Wir bleiben auch nicht lange. Aber im Augenblick bist du hier sicher. Mein Stiefvater und meine Mutter sind bei der Arbeit und mein Vater wird mindestens eine halbe Stunde brauchen. Fünf Minuten, okay? Dann sind wir hier wieder raus. Keiner wird dich sehen. Versprochen.«
Ich führe ihn in Linas Bad und gebe ihm Handtücher. »Ich lege die Kleider vor die Tür.«
Als er nickt, schließe ich die Tür und mache mich in Olivers Zimmer auf die Suche nach Klamotten. In seiner Freizeit schlurft mein Stiefvater gern in Kapuzenpullis und Jogginghosen herum, etwas davon passt John sicher. Ich suche noch Unterwäsche und Socken und gehe zurück zur Dusche, höre das Wasserrauschen durch die kaputte Tür und lege die Klamotten davor.
Okay, jetzt noch rasch ein paar Brote und dann können wir los. Ich öffne den Kühlschrank und greife nach der Butter, als ich plötzlich ein Klacken vor der Wohnungstür höre. Ich hebe meinen Kopf und in dem gleichen Moment, in dem mir siedend heiß einfällt, dass ich jemanden vergessen habe, wird die Tür auch schon aufgerissen.
X
Die meisten von ihnen gehen nur Vermutungen nach. Und Vermutungen helfen hinsichtlich der Wahrheit nichts.
((10:36))
Er hat sich in die Höhle des Löwen begeben. Es war sein Verlangen nach heißem Wasser, aber nicht nur das, er hat auch wissen wollen, wie es aussieht auf der anderen Seite. Und höchst widerstrebend muss er sich eingestehen, dass er der Gazelle sauber gegenübertreten wollte. Als Mann.
Auch wenn er die Tür nicht abschließen kann, dreht er das heiße Wasser auf und erfreut sich einen Moment an dem dampfenden Wasserstrahl, der silbern aus dem Duschkopf strömt und alles mit Nebel einhüllt, wie die Viktoriafälle nach der Regenzeit. Erst als ihm klar wird, dass er gerade kostbare Zeit verschenkt, wirft er seine verdreckten Kleider schnell von sich und steigt in die Glasdusche, deren Keramikboden größer ist als das Bett, in dem er mit Kimoni zuletzt geschlafen hat. Seine Füße hinterlassen schmutzige Abdrücke und aus seinen Haaren rinnt graue Brühe. Er lässt das Wasser hart über seinen Rücken prasseln, dreht sein Gesicht dem Strahl entgegen und wünscht, er könnte allen Schmerz so einfach wegwaschen wie diesen Schmutz.
Er schließt die Augen, aber dann reißt er sich zusammen. Ganz egal, was die Gazelle ihm versichert hat, er hat keine Zeit zu verlieren, er muss verrückt gewesen sein, ihr überhaupt hierher zu folgen! Hastig greift er nach der Glasflasche mit dem Duschgel in dem Drahtkorb in der Ecke und verteilt die Seife über seinem Körper.
Ein Geräusch lässt ihn zusammenzucken. Die Tür öffnet sich. Was soll das? Die Gazelle würde doch nicht …
Doch sie tut es, sie schleicht herein, ihr lädiertes Gesicht plötzlich wieder elefantengrau, sie legt beschwörend ihren Zeigefinger vor den Mund und zieht die Tür schnell zu. Dabei fallen einige Kleider aus ihren Armen zu Boden.
Was geht hier vor?
Er dreht das Wasser ab, obwohl er noch über und über mit Schaum bedeckt ist. »Was …?«
Sie beschwört ihn mit Gesten, still zu sein. Dann hört er die Stimme. Ganz nah, als ob sein Mund durch die Tür mit ihnen sprechen würde.
Eine Gänsehaut überzieht seinen nackten Körper, aber nicht, weil ihm die Stimme Angst macht, sondern weil der
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